Liane Schulte
Der typische Westgeruch: Orangen, Schokolade, frische Seife, und eine Idee Kaffee - so rochen die Westpakete
Transkript des Interviews
C. Jacobi: Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen zu Drüben und Dann, unserem kleinen DDR- Zeitzeug:innen-Podcast für Jung und Alt. Fünf gebürtige Ost-Berliner:innen berichten über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Leben in der DDR, dem Verlassen Ost-Berlins und dem Ankommen in West-Berlin. Im Mittelpunkt stehen dabei deren ganz persönliche Alltagserfahrungen, Hoffnungen, Perspektiven und Herausforderungen, verbunden mit dem Ankommen im fremdartigeren Teil der eigenen Heimatstadt. In dieser Folge sprechen wir mit der gebürtigen Karlshorsterin Liane Schulte, die 1984 mit ihren beiden Töchtern, vier und zwölf Jahre alt, per Ausreiseantrag ebenfalls über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße ausreiste. Sie spricht offen über Gefühle der Enttäuschung und des Bereuens und über Schwierigkeiten, verbunden mit der Ausreise als alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern und ohne Freunde und Familie als Anlaufstelle in West-Berlin. Mit dem Wissen, dass die Mauer wirklich nur fünf Jahre später fallen sollte, hätte sie diesen Schritt nicht gewagt. Hallo liebe Liane, //Hallo// ich würde dich zuallererst einmal bitten, dich ganz kurz selbst vorzustellen.
#00:01:35#
L. Schulte: Ja, also ich heiße Liane Schulte. Ich wohne in Berlin und ich bin auch in Berlin geboren, und zwar am 21.9.1950. In dem sehr wohl angesehenen Bezirk Karlshorst, gehört zu Lichterfelde. Ähm ja, ich bin in so einem ganz kleinen, idyllischen Reihenhaus geboren, mit kleinem Hintergarten und kleinem Vorgarten und äh sehr viel Ruhe, viele Lindenbäume in der Straße und alles war sehr sehr gemütlich. Die Dänen sagen sehr „hyggelig“. Ja, ja, und dann bin ich später aber doch äh zu meiner Großmutter gekommen und die Oma lebte in der Nähe vom damaligen Ostbahnhof in der Koppenstraße, Bezirk Friedrichshain. Und dort habe ich dann auch die, die erste Schule besucht bis zur 8. Klasse und anschließend, ich weiß nicht mehr, wie diese erste Schule hieß, aber ich weiß, dass ich dann bei uns in der Straße gabs diese Andreas Oberschule – heute, sie existiert immer noch, das ist ein sehr altehrwürdiges Gebäude, heute ist es natürlich Gymnasium, damals war es die erweiterte Oberschule Andreas, und ähm was ich sehr schön damals fand, dass wir gleichzeitig ab der achten Klasse sind wir dorthin gekommen bis zur 12. Klasse, und gleichzeitig in den vier Jahren haben wir eine Berufsausbildung absolviert. Das heißt wir hatten immer ein oder zwei Tage Berufsschule, auch nachher später direkt auf der Station, wir sind also alle Krankenschwester oder Krankenpfleger geworden. Äh, dieses Gymnasium oder diese Oberschule war dafür auch ausgerichtet, so die medizinische Richtung einzuschlagen. Und ähm also hatten wir nachher mit dem Abitur auch den das Staatsexamen als Krankenschwester oder Krankenpfleger, fand ich eigentlich eine sehr gute Einrichtung, ja. //Absolut// Ja, und dann habe ich ähm das Studium angefangen, hab dann meinen ersten Mann kennengelernt und an der Humboldt-Uni, hatte mich für Zahnmedizin entschlossen. Ähm die, der Grund dafür war eigentlich nur der, dass ich wusste, dass ich, wenn ich Humanmediziner oder Allgemeinarzt werde, es gab ja keine Privatpraxen in Ost-Berlin, oder sagen wir nur noch ganz wenige von alten Ärzten, hätte ich im Krankenhaus dann auch Wochenenddienste und Nachtdienste machen müssen, und dann hab ich gedacht, dann mach ich mal lieber Zahnarzt, da bist du von Montag bis Freitag beschäftigt und dann Wochenende frei. Ja, also ich habe dann an der Humboldt-Uni studiert, habe dann zwischendurch auch meine erste Tochter bekommen und später dann auch die zweite. Hatte dann die erste Anstellung in Königs Wusterhausen und ähm dann auch mehrere Umzüge, von einer sehr alten Wohnung mit Klo, halbe Treppe tiefer, dann in den ersten Plattenbau in Hohenschönhausen. Wahnsinnig waren wir erfreut über eine Neubauwohnung mit Bad innen, und schön eingerichteter Küche mit Balkon sogar, also das war schon Luxus für uns damals. Ja und dann irgendwann ähm sind wir dann irgendwann ähm, noch mal umgezogen und irgendwann kam dann auch die zweite Tochter und ich mit mit ähm mit vielen Bekannten und Freunden, wo ich also immer wieder dann auch so hörte, dass sie sich mit Ausreise beschäftigen, ich selber gespürt habe, dass ich eigentlich auch im Beruflichen nicht wirklich weiterkomme, ich es war auch bei Zahnärzten notwendig, die Fachzahnarztausbildung zu machen, und da hätte ich dann zu zur Hälfte der Zeit mich politisch mit engagieren müssen, das hatte ich abgelehnt und so war für mich zunächst erstmal dieser Weg versperrt. Also ich hätte eben ganz normaler Zahnarzt ohne Fach, ohne den Begriff des Fachzahnarztes sein können.
#00:05:52#
C. Jacobi: Was hätte das bedeutet?
L. Schulte: Naja, eigentlich nicht so viel, aber eigentlich mal, alle machten diesen Fachzahnarzt, machten diese diese zusätzliche Spezialisierung.
C. Jacobi: Und was bedeutete, du hättest dich politisch engagieren müssen? Wie hätte das ausgesehen?
L. Schulte: Naja wir hatten immer irgendwelche politischen Veranstaltungen, also die Nachmittage waren oft damit ähm angefüllt und äh….
C. Jacobi: Und waren das, waren das Veranstaltungen, deren Inhalt du mitgetragen hast?
#00:06:22#
L. Schulte: Nee, das hätte ich ja nicht mitgetragen. Absolut nicht, also ähm mit den Jahren war für mich das immer mehr klar, dass ich dieses System nicht mehr weiter unterstützen möchte. Ich fühlte mich persönlich in meiner Freiheit eingeengt und ähm ich, ich spürte ja auch, dass es an allen, an allen, von allen Seiten her keine Möglichkeit gab, sich wirklich in bestimmte Richtungen zu orientieren, sich selbstständig zu machen, sich selber nochmal umzuorientieren. Auch das war nicht möglich. Also äh man blieb dabei und man musste dann auch diesen Weg weitergehen. Die Möglichkeit zu dann die zu sagen also “ich will jetzt, eigentlich war das doch nicht das Richtige, ich würde doch lieber was anderes studieren”, das gab so gut wie gar nicht. Ja. Das ähm ja, das war, ich hatte schon Schwierigkeiten während des Studiums, ich musste nämlich einmal wegen der Schwangerschaft ein Jahr aussetzen. Und hätte ich da nicht so gute Beziehungen gehabt, hätte ich gar nicht das Studium wieder aufnehmen dürfen.
#00:07:35#
C. Jacobi: Und du hast gerade gesagt, -weil wir von Beziehungen auch sprechen – du warst in einem Freundeskreis, Bekanntenkreis eingebettet, die sich auch alle vielleicht nicht mit Gedanken der Ausreise oder der Fluch getragen haben, aber so in der sich so ähnlich gesinnt haben, //ja// eingestellt waren.
#00:07:51#
L. Schulte: Ja, die waren alle irgendwie unzufrieden auch ja, weil sie alle ja in Ihren beruflichen Entwicklungen nur in eingeschränktem Maße tätig sein konnten und ähm und dann kam ja auch dazu, dass wir äh, dass es mit den Wohnungen war es schwierig, man musste ja fast heiraten, um ne Wohnung zu bekommen ähm, also nichts, es war kaum ein Weg offen, sich auch mal ganz alleine irgendwie zu äh zu etablieren oder, oder oder selbst selbst die Selbstbestimmung fehlte einfach völlig.
#00:08:28#
C. Jacobi: Es war teils gelenkt auch, ne?
L. Schulte: Es war gelenkt, es war alles vorgegeben und wenn man diese Bahnen verließ, dann konnte man eigentlich auch ganz schön tief fallen, ja.
#00:08:38#
C. Jacobi: Und war das allein ähm die Bedingungen, die ähm dazu geführt haben, dass du gesagt hast, das möchte ich so nicht mehr für mich und für meine Kinder?
L. Schulte: Irgendwann. Ich hatte zwar wirklich erst große Angst, diesen Schritt zu gehen, den Ausreiseantrag zu stellen, weil ich natürlich auch von vielen anderen gehört habe, die diesen Schritt schon gegangen sind, wie viele Jahre, das dauern konnte, und ich hatte auch so ein bisschen Angst, ob ich diese Jahre durchstehe. Weil es gab zu viele Gefahren. Es gab die Möglichkeit, dass die Kinder mir zum Beispiel auch weggenommen werden konnten. Es gab die Möglichkeit, dass man mich einfach aus dem Beruf raus katapultierte und das waren natürlich alles so ne Risikofaktoren, die konnte ich mir nicht leisten. Ich hatte zwei Kinder die ich ähm keine wirkliche männliche in in zu der Zeit keine wirkliche männliche Unterstützung, so dass ich finanziell alleine für alles verantwortlich war.
#00:09:42#
C. Jacobi: Und dennoch hast du dann doch einen Ausreiseantrag gestellt, richtig?
L. Schulte: Irgendwann, ja, da kippte das dann, da war ich einfach ähm zum einen, weil ich das so viel dann aus meinem engen Freundeskreis gehört habe, die das alle gemacht haben. Und irgendwann ähm wollte ich dann, wollte ich das auch. Ich hatte auch inzwischen einen guten Freund, der das gleiche, wollte, also ich glaube ganz alleine hätte ich es nicht gemacht, aber mit ihm ähm haben wir das, wir haben das dann zusammen auf die Wege gebracht mit dem Antrag und.
#00:10:17#
C. Jacobi: Und wenn wir das zeitlich einordnen, war dann die der Zeitpunkt? //Ungefähr 1980// Nach dem Studium schon? //Ja, ja// Und warst du da schon fertige Zahnärztin?
L. Schulte: Ja, mhm.
#00:10:29#
C. Jacobi: Okay. Das heißt, du bist zum Rat des Innern gegangen und hast den Ausreiseantrag gestellt?
L. Schulte: Wir haben das per Post //per Post//, wir haben das geschrieben und wir haben das dann einfach ans Ministerium für Inneres gesendet.
#00:10:46#
C. Jacobi: Und wie gings dann weiter, also wie würdest du die Zeit zwischen Antragstellung und tatsächlicher Ausreise kurz beschreiben?
L. Schulte: Also ähm man muss ja erst mal abwarten, weil man zunächst, man wusste es auch, dass man zunächst überhaupt keine Reaktion bekommt und nach einer gewissen Zeit, ich kann nicht genau sagen, ob wir zwei Monate oder drei Monate gewartet haben, haben wir dann diesen Antrag wiederholt, nochmal vertieft, unser Anliegen, und dann wieder hingeschickt und abgeschickt, und dann ich weiß aber nicht, ob wir zwei oder dreimal erst einen Antrag gestellt haben, aber dann kam eine Reaktion, und die Reaktion war in einer Karte, die im Briefkasten, also per Post ankam, dass ich vorstellig sein sollte, äh in Schöneweide war das. Ich wohnte damals dann in Treptow, ähm und da war ein Büro der des Ministeriums für Inneren, wo ich dann im Prinzip zum Gespräch eingeladen wurde. Und in diesem, diese Gespräche habe ich, glaube ich, zwei oder dreimal in der Zeit geführt.
#00:11:55#
C. Jacobi: Was wurde da gefragt? Oder wurde überhaupt was gefragt oder wurde nur erzählt?
L. Schulte: Ja, ja, natürlich. Es wurde auch gefragt erstmal warum und weshalb, aber ich kann jetzt auch nicht mehr so viel wiedergeben. Es war natürlich immer so der Tonus, dass man sich das überlegen soll. Auch immer so mit dem mit dem Anfang. “Ja, wir können auch anders.”
C. Jacobi: So nach dem Motto “Passen sie auf!”?
#00:12:18#
L. Schulte: Ja, wir können auch anders. Also ähm auch man hat das auch mit ins Spiel gebracht mit den Kindern. “Wer weiß, ob sie dann überhaupt in der Lage sind, zwei Kinder als Staatsbürger hier großzuziehen” und dann auch mit dem “sie haben hier studiert, sie haben das alles hier in unserem Staat genossen, oder in Anspruch genommen, und sie müssten eigentlich auch dafür verpflichtet sein, hier zu bleiben und hier zu arbeiten”, also solche ähm mal im Guten und mal auch mit Druck. Und so, dass waren diese, einmal wurde auch mein damaliger Poliklinik Chef mit eingeladen. Ja, das war so das letzte Gespräch. Ich meine, dass wir Glück hatten, weil ähm ein Ausreiseantrag bewilligt zu bekommen nach ein und dreiviertel Jahr, das war wirklich schnell. Aber dazu muss ich sagen, dass ebend zu der Zeit war es, dann hatten wir einen großen Freundeskreis, die alle irgendwie die Absicht hatten oder auch zu uns kamen, um zu hören, wie wir das gemacht haben. Also es waren ja wir, ich glaub wir waren keinen Abend alleine zu Hause und dann gab es so ne Gruppe von Menschen, die die dann auch gesagt, “wir haben das alles schon, wir haben diese Anträge schon weggeschickt”, das waren dann auch gute Bekannte und Freunde von uns, “aber da kommt nichts und passiert nichts” und dann haben wir uns eines Tages zusammengesetzt und haben gemeint “wir müssen es wagen, einen gemeinsamen Antrag zu stellen” und dann haben wir den formuliert und unterschrieben. Ich weiß nicht wieviel wir waren sechs, acht die Kinder waren ja gar nicht mitgezählt, also da waren mindestens noch vier oder fünf Kinder dabei. Es war schon eine sehr ja, vielleicht ein Risiko, ein sehr großes Risiko, wenn man das als Gruppe.
#00:14:20#
C. Jacobi: Ja, weil das in der Regel ähm das Publikwerden mit so einem Ausreise eines Ausreisegesuchs ja auch oft mit, sage ich mal, sozialer Isolierung, mit Unmut, mit Isolierung auf dem Arbeitsplatz auch verbunden war und mit Drohungen. //Genau das ja// Und so wären dann wahrscheinlich auch eben alle acht oder neun Beteiligten mit ihren Kindern eben diesen Bedrohungen ausgesetzt gewesen //mhm// wahrscheinlich.
#00:14:46#
L. Schulte: Also das, das kenne ich auch von meiner Arbeitsstelle, ich hab in der Poliklinik gearbeitet, in der Nähe von Marzahn. Springpfuhl hieß das, glaube ich, die Station und alle meine Kollegen, nachdem das bekannt wurde, haben sich von mir ähm distanziert. Also heimlich kam dann mal der eine oder andere und fragte, “Wie hast du das denn gemacht?” aber so offiziell saß ich alleine beim Essen, also da hat sich keiner mehr offiziell zu mir hinbegeben.
C. Jacobi: Ja, also es war nen kompletter Umschwung zu zu vorher, sozusagen //ja// mhm, und ähm ja, wie hast du denn dann erfahren von deinem von dem, von der Ausreise, von der positiven Entscheidung das du ausreisen darfst?
#00:15:35#
L. Schulte: Also nach diesem Sammelantrag kam relativ schnell dann ähm ne Aufforderung zum Bezirk, glaube ich, in Treptow zu kommen und da wurde mir dann gesagt, ich ich soll jetzt alles auflösen, mein Haushalt auflösen und wann sie ähm wann sie rüber dürfen, wann sie den Ausreiserantrag bewilligt bekommen, das bekommen sie dann noch Bescheid. Also ich bin nach Hause gekommen mit dem Wissen, dass ich irgendwann ausreisen kann mit den Kindern. Ich musste mir auch noch eine eine Genehmigung von dem Vater meiner ältesten Tochter einholen, weil der lebte ja hier. Wir waren auch nicht mehr zusammen und er musste das befürworten, das hat er nicht so gern gemacht, weil er war nämlich damals in der Partei und das war ihm eigentlich äh, da hatte ich bange, ob das klappt, aber er hats dann, er hat es dann gemacht und ähm dann haben wir in drei Wochen unseren ganzen Haushalt aufgelöst. Ich hatte wirklich eine sehr vollkommen eingerichtete tolle Wohnung. Mit Mitte 30, wenn man Anfang 20 schon das erste Kind bekommt, hat man das dann, //ja// ja und ich musste das alles schweren Herzens auflösen. Alles. Alles abgeben. Ich hab teilweise das auch verkauft, weil ich dachte, ich könnte vielleicht etwas Geld mitnehmen, durfte ich aber dann doch nicht. Und ich musste dann auch noch hohe Mietsummen bezahlen. Äh ich weiß gar nicht mehr warum. Ich weiß es nicht. Normalerweise hat die Miete ja im Osten nur so knapp 100€ gekostet, ich weiß aber, dass ich irgendwie fast 900€ nicht, 900 D-Mark war das damals…
C. Jacobi: Ja, noch weiterbezahlen mussten?
#00:17:33#
L. Schulte: Ja! Vielleicht habe ich ein ganzes Jahr bezahlen müssen? Das kann auch sein, ja, also die haben sich ja sonst was einfallen lassen. Und ähm ich weiß, dass das noch sehr viel Geld war, was ich da zurücklassen musste. Aber ich konnte dann noch einiges ähm dann, ich durfte nichts mitnehmen. Also ich konnte das dann an meiner Mutter und auch an meinen Freund, der erstmal noch dableiben musste und der auch nichts mehr hatte. Und ja, und dann bekamen wir kurzfristig dann Bescheid, dass wir am 10. Februar 1984, einen Tag vorher haben wir in einer leeren Wohnung den Geburtstag meiner ältesten Tochter gefeiert und
C. Jacobi: Den zwölften Geburtstag?
L. Schulte: Ja, ja.
#00:18:19#
C. Jacobi: Das war am 9. Februar 1984 //Ja//der Geburtstag und am 10. Februar ‘84 durftet ihr ausreisen //da war die Ausreise//, dann war der Tag gekommen.
L. Schulte: Ja.
C. Jacobi: Und hattest du außer das, was ihr tragen konntet, noch irgendwie was vorher rüberbringen können? //Ne, gar nichts// Und was hattet ihr, was habt ihr euch in die Taschen gesteckt, was hattet ihr am Leib, wie seid ihr los, sozusagen?
#00:18:46#
L. Schulte: Also wir haben, wir hatten ja noch ein kleines Fahrrad dabei, weil das Wanda, die kleine Tochter, die hatte das gerade von ihrem Papa geschenkt bekommen und das wollten wir nun wirklich nicht dalassen oder auch weitergeben.
C. Jacobi: Das sieht man auch ganz wunderbar auf dem auf dem Foto, das hier noch verlinkt ist.
#00:19:07#
L. Schulte: Genau. Und ansonsten habe ich einfach ein bischen Bettwäsche im Koffer gehabt, natürlich für uns ein paar Sachen zum Wechseln und ich weiß, ich habe sogar noch ein paar ein bisschen Besteck mit dabei, weil des wohl sehr edles Besteck war, hatte ich dabei. Ja einfach so, weil ich nicht wusste, ob wir überhaupt, was wir dann drüben bekommen, so dass ich so ne Erstausstattung äh für für drüben auch hatte, ja und ja was so im Koffer überhaupt reinpasste.
C. Jacobi: Ja und was sind deine Erinnerungen an diesen Tag, an den an das Aufstehen, an den Morgen, an die an die Stimmung?
#00:19:51#
L. Schulte: Na ja, wir waren alle sehr aufgeregt. Meine Mutter war auch da mit ihrem Lebensgefährten, die hatten dann bei uns geschlafen, meine Mutter war überhaupt rührig, das muss ich auch wirklich erwähnen! Die hatte sich, als sie erfuhr, dass ich nun ausreisen werde, hat sie sich Urlaub geben lassen und hat drei Wochen lang in der Zeit, die wir die Wohnung gelehrt haben, hat sie in der Küche gestanden und hat jeden Tag einen riesen Topf Mittag gekocht, weil wir jeden Tag ungefähr zwölf bis 14 Leute zu Besuch hatten die alle zu uns kamen, mit uns reden wollten eventuell was von uns kaufen oder mitnehmen wollen, und wissen wollten, wie es uns geht. Und meine Mutter hat für alle gekocht und stand jeden Tag in der Küche, und das muss man einfach miterwähnen, weil das war, wirklich ne Glanzleistung, die sie da vollbracht hat. Und ja und dann an dem Morgen hatten wir wie gesagt alles gepackt, die Kinder schwere Rucksäcke, die Wanda ist mit ihrem Rucksack nach hinten umgeklappt, weil sie den gar nicht weils für sie zu schwer war. Ich musste dann wieder einiges rausnehmen. Das arme Kind! Und wir hatten dann ein Taxi bestellt und also die Verabschiedung kam, war sehr kurz. Ich habe auch im Nachhinein gedacht, ach Gott, meine arme Mutter. Ich hab wirklich nur ganz kurz Tschüss gesagt, aber ich glaube, ich konnte nicht. Ich war so aufgeregt. Ich konnte nicht noch so eine lange Abschiedsszene äh vollziehen und auch nicht ertragen.
#00:21:21#
C. Jacobi: Das ist sicherlich für viele andere verständlich, genauso wie für mich.
L. Schulte: Und das aber, was ich mir gemerkt habe, das war auch die Sache, dass mir der Lebensgefährte meiner Mutter, man weiß ja, dass Ostler eigentlich über jedes. Mark? //Ja, DDR-Mark// Nein, West-Mark, oder? West, was war denn des damals?
C. Jacobi: Das waren beides Mark. DDR-Mark und von West-Mark. Deutsche Mark und DDR-Mark.
L. Schulte: Ach so, ja ok ok. Also jeder Ostler war ja glücklich, wenn er ein bisschen Westmark zur Verfügung hatte. Und ich weiß, dass der Lebensgefährte meiner Mutter, dass die überhaupt kaum West-Kontakt hatten. Aber er hatte noch 20 Westmark und die hat er mir dann im Taxi noch zugeschoben, damit du etwas wenigstens am Anfang äh für drüben hast, also.
#00:22:14#
C. Jacobi: Und wenn man das so vergleichen müsste, wieviel waren das so ungefähr im im heutigen Vergleich ist schon nicht wenig, ne?
L. Schulte: Das war nicht wenig. Also es gab ja teilweise Umtausch, sogar x10. Also ich glaube, üblicherweise war das so x4 oder x6. Aber je nachdem, wo man das //es war ordentlich Geld// Es war viel Geld. Ja, wenn man sich überlegt, dass die Miete bloß 80-90 Euro gekostet hat //Mark// äh Mark, ja Mark, dann, dann waren 20 Westmark umgetauscht, ne ganze Monatsmiete mindestens, wenn nicht mehr, //ja absolut//, also es war das war so rührend. Das sind auch so Dinge, die ich nie vergessen werde. Weil ich weiß, dass es für ihn sicherlich ein großes Opfer war. Aber er wollte mir einfach noch so ein bisschen Hilfe leisten, was Gutes tun.
#00:23:07#
C. Jacobi: Ja. Ja, und er hat die Dankbarkeit sicher ähm gesehen und gespürt.
L. Schulte: Ja, ja, ich glaube, ich hab ihm das später auch noch mal gesagt, dann ja. Ja, dann sind wir zur S-Bahn Richtung Friedrichstraße und also wie wir da jetzt dahin gekommen sind, //das ist nicht wichtig// das weiß ich jetzt auch nicht, aber ich weiß, dass wir dann irgendwann durch die Kontrolle, das ging da alles dann, na klar haben wir eine Weile warten müssen, weil die wollten ja nun genau alles kontrollieren und dann waren wir irgendwann auf diesem Bahnsteig. Und das ist auch etwas, was immer sowieso es gibt, so Blitze, die immer sofort aufleuchten. Und dieser Bahnsteig, der war so verlassen, so öde auf diesem West-Berliner Friedrich Friedrichstraße Bahnhof äh Steig, äh dass ich dachte, “Und das ist jetzt der Westen??” (lacht), aber es war ja noch ein Teil des Ostens. Er ist einfach nur von niemandem mehr gepflegt und gehegt worden, ne.
#00:24:08#
C. Jacobi: Und der Tag? Genau. Und der Tag an sich ähm war auch recht recht grau und öde für euch?
L. Schulte: Absolut ja. Er war, ich meine, es war Februar, es war, //es war kalt// es war kalt und leider, und leider also uns hatten eigentlich damals… Eigentlich gute Freunde hatten uns versprochen, uns zu dem und dem Zeitpunkt abzuholen und ähm und erst kamen sie gar nicht. Es gab ja keine Handys und dann kam aber der Mann auf dem kam mit einer S-Bahn an, sprang raus und sagte mir, das fiel mir dann auch noch später ein, “Du ähm wir müssen noch unbedingt was besorgen”. Die hatten einen kleinen Säugling, die hatte gerade entbunden, die Frau, “wir müssen noch ganz schnell was besorgen, ihr müsst hier noch warten” und ist dann sofort wieder mit der S-Bahn zurückgefahren und ähm dadurch wusste ich, dass der überhaupt kommt. Wir haben nämlich dann noch zwei Stunden auf dem Bahnsteig gesessen. Und das Einzige, was ebend war, dass wir meine Mädels meine Kinder sofort diesen Kiosk da entdeckten, wo es schon diese ersten herrlichen Kaugummis, Schokoladen und Gummitiere und weiß ich was alles gab. Und ich dachte, ach Gott, die ärmsten, dann sollen sie wenigstens, ich hatte ja nun 20 Westmark, dann sollen sie da wenigstens eine kleine Freude erst mal haben, wenn wir hier schon so lange warten müssen.
#00:25:35#
C. Jacobi: Ja, wie wie schöner eingesetzt als so… (lacht)
L. Schulte: Genau zur kleinen vorübergehenden Beruhigung der Gemüter. Ja, und dann irgendwann hatten sie uns dann abgeholt und dann äh brachten sie uns zum Tiergarten in dieses Café in zum Giraffen. //in der Klopstockstraße, das Giraffen Café// ja, ja, und waren dann sagten dann, es tut uns leid, ihr müsst hier noch mal bleiben. äh Wir müssen noch was von Ikea holen und nach Hause transportieren. Also ich muss natürlich dazu sagen, für uns war es zwar tragisch. Aber zum Verständnis, die waren noch nicht mal ein Vierteljahr drüben, hatten aber schon ihre eigene Wohnung und währenddessen hat sie auch noch, sie ist hochschwanger rübergegangen mit ihm und inzwischen hat sie auch noch entbunden. Das heißt, die hatten ne Einrichtung zu machen, die hatten das n Kind plötzlich, das war da waren die auch total überfordert, ja sodass natürlich unser erster Tag mehr im Warten bestand als in freudiger Erregung und bestaunen, ähm das kam dann erst die nächsten Tage.
#00:26:50#
C. Jacobi: Ähm es ist ja so, dass du West-Berlin ja aus deinen Erinnerungen in gewisser Weise schon n bisschen kanntest. Also es war nie komplett unbekannt, weil du ja als kleines Kind, als die Mauer //Mhm// noch nicht ähm hochgezogen war, du mit deiner Oma //Mhm// schon West-Berlin Ausflüge unternommen hast //Ja richtig// Ist das richtig? //Ja// Ja ihr habt dort Eisbecher gegessen, wart am Wannensee, also du hattest eine Erinnerung, die wahrscheinlich aus dem Kindlichen her recht schön und wohlig war.
#00:27:26#
L. Schulte: Absolut. Das Wohlige war doch auch in West-Berlin diese Aneinanderreihung von kleinen Geschäften. Aus jedem Geschäft roch es ein bisschen anders. //ja// Und es gab das Kaffeegeschäft und es gab das Geschäft mit Lederstachen. Und da es ja damals wenig mit Plastik gab, roch das auch nach Leder oder es roch auch nach Kaffee oder der Schokoladenladen, es roch ebend auch nach Schokolade ne, und die Drogerie nach Seife. Ich glaube, da sind ja viel mehr natürliche Produkte gewesen, als als was wir heute haben, ne?
#00:27:58#
C. Jacobi: Ich muss da hier noch mal anmerken, aus unserem ersten Kennenlernen habe ich mir mitgenommen, dein Zitat, ähm du beschreibst das erste Ankommen oder das erste Sehen und das erste Riechen in West-Berlin ähm so: “der typische Westgeruch nach Orangen und Schokolade, nach frischer Seife und einer Idee Kaffee, so Rochen auch die West-Pakete”.
#00:28:22#
L. Schulte: Ja, genau. So rochen die West-Pakete.
C. Jacobi: Ich finde das hast du sehr sehr schön beschrieben //ja//.
L. Schulte: Aber was ich dir nicht erzählt habe, also wir waren Silvester, sind wir rüber in in Westen gefahren. Das war vor 61 zu Verwandten, um dort Silvester zu feiern und ähm ich, ich weiß, die Oma wollte auch ich irgendein Telefonat noch machen im Westen und öffnete eine Telefonzelle und da kam uns aber ein Schwall von stinkenden Eiern entgegen. Also da war eine Stinkbombe, was wir im Osten auch nicht kannten, also das ist natürlich einmalig //ja// Also das ist natürlich ein einmaliger Geruch, ein einmaliges Geruchsempfinden gewesen. Äh was, was aber irgendwie als //was sich als Erinnerung auch prägt// die Erinnerung hatte sich eingeprägt, //ja, natürlich// ja, dass also aber wie gesagt, das andere ist überwiegend und einfach diese damals dieses, dieses Liebliche, dieses Nette, dieses Wohlige. Durch die kleinen Geschäfte, die wo so viel Persönlichkeit, Persönlichkeit auch war, wo so viel Zuwendung auch stattfand.
#00:29:37#
C. Jacobi: Würdest du sagen, das war dann schon wirklich ein merklicher Unterschied, zu dem, ich nenne es mal Einkaufserlebnis in in der DDR?
L. Schulte: Absolut.
C. Jacobi: Also es war das komplette Gegenteil in der DDR sagst du?
L. Schulte: Erstens mal hatten wir nicht diese wunderschönen Schaufenster, diese wunderschönen Angebote an Waren gehabt, das sah alles grau und düster aus, die Verkäuferin ähm waren häufig, auch die sahen düster aus, ja, die waren waren eigentlich viele nicht sehr freudvoll bei ihrer Arbeit. Ja, und das war ja ein himmelgroßer Unterschied und wir hatten ja nie so viele Geschäfte aneinander, dass man sagen konnte, oh, das ist so ne richtig kleine Shoppingmeile hier //keine Flaniermeile//, ja, ja, das gabs ja auch nicht und und die Schaufenster, ja, wir hatten ja auch nichts groß auszustellen. Ne, da war ja nicht so großes Angebot.
#00:30:28#
C. Jacobi: Ja, da macht sich natürlich der Unterschied ganz tragbar bemerkt, ja.
L. Schulte: Das war schon sehr drastisch. Drastisch. Kann man wirklich sagen. Die Kaugummiautomaten hab ich vergessen! (lacht) Genau die sind mir auch in Erinnerung.
#00:30:44#
C. Jacobi: Die aus den West-Besuchen mit deiner Oma. Ja, was hat die so besonders gemacht, die Automaten?
L. Schulte: Na ja, erst mal war das ja toll, sich da so ne Kugel, so ne farbige Kugel rauszuholen und dann hat bekam man ja, wenn man Glück hat, immer noch n Ring oder irgendein, irgendetwas noch zusätzlich kam ja dann noch mit raus aus dem Automaten. Na das sind alles so, und dann gab es auch diese Automaten mit dem Pez-Pfefferminz. //Ah ja mit den Pezi-Tieren// Ja ja genau wo man dann so alle möglichen Tierköpfe oben waren und die öffneten dann so ihr ihr Maul und dann kam da so ein Stück Pfefferminz raus ne, das sind ja das sind alles.
#00:31:23#
C. Jacobi: Sehr schön. Ja, das sind tolle Erinnerungen. Ähm nichts destotrotz //ja// würde ich euch gerne noch mal zusammenfassen und noch mal wieder ein kleines Schritt zurückgehen. Es gab einen bewilligten Ausreiseantrag. Du bist zusammen mit deinen mit deinen beiden Töchtern zwölf und vier am 10. Februar 1984 über den Grenzübergang Friedrichstraße, Berlin Friedrichstraße ausgereist. Ähm ja, ihr seid einfach viel wartend, wartend ausgereist, oder wartend angekomme. Es war kalt und ähm es war eben ein typischer Februartag //mhm//, sodass ihr tatsächlich erst abends gegen 19:00 Uhr im Flüchtlingsauffanglager in Marienfelde angekommen seid. Und, ja. Sicherlich alle wissen das gegen 19:00 Uhr ist Feierabendszeit und viel ist da nicht mehr passiert //Genau//. Wie sind deine Erinnerungen noch daran?
#00:32:25#
L. Schulte: Also ähm ich weiß, wir haben natürlich, ja, wir haben kaum noch jemanden angetroffen Aber zu mindestens hat man uns äh diese, diese ersten Sachen, die für die Betten, die Bezüge und und fürs Abendbrot noch n Brot und ein paar Dosen äh und abgepackten Käse, weiß ich jetzt gar nicht, //abgepacktes Brot hast du gesagt// ja abgepacktes Brot //alles abgepackt// alles abgepackt, und auch die Wurst in Dosen, und äh ich glaube auch sogar für den nächsten Tag schon Dosen, so als so Eintöpfe Gemüseeintopfe ähm in Dosen. Aber ähm also das Notwendige haben wir an dem Abend, Handtücher wahrscheinlich auch, das haben wir noch bekommen, aber ansonsten war kein großer Ansprechpartner mehr vorhanden. Dann diese, dieses Zimmer zuerst mit den Metall-Doppelbetten, Doppelstockbetten und in der Mitte der Tisch. Ach ja, das war, das war schon als Erstes Kinder hatten Hunger. Wir hatten ja n ganzen Tag kaum was gegessen. In dem Restaurant, in dem im Tiergarten in der bei der Giraffe, die konnten uns da nicht groß was //leisten// kaufen. Ja das war nicht möglich, also haben wir dann ganz schnell erstmal zu Abend gegessen. Ja, und ich glaube, das wars dann auch. Also ich, ich hab von vornherein gesagt, so viele Erinnerungen mit dem Auffanglager hab ich nicht //ja//, weil es war für mich und den Kindern eine sehr, sehr schwierige Zeit, und
#00:34:11#
C. Jacobi: Eine schwierige Zeit, die ähm äh wochenlang, würde ich sagen, drei Monate wart ihr dort, //Ja, ja,// die wirklich auch geprägt war von wie du sagst ja echt vielen Strapazen, die einfach mit der mit der Anmeldung, mit der Schule, mit der Suche einer der Schule für die Kinder eine Kita für die Kleinen. Ähm mit zurechtkommen, mit wenig Geld, mit einholen von von Geld auch verbunden war.
#00:34:41#
L. Schulte: Ja. Also das das Rumlaufen. Man hat das ja gar nicht so wirklich… manchmal wurde einem an einer Stelle gesagt, wenn man da seinen Stempel geholt hat. Sie können jetzt noch da und da hingehen, aber vieles ging auch nur so //Auto Pilot wahrscheinlich// Ja also ja, sodass der, dass man da von dem noch hörte äh, so Mundpropaganda //Achso//, so ne richtige, ja, Mundpropaganda so richtig. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es keine wirkliche, in Teilen schon, aber nicht wirklich ne Führung, dass man von vornherein wusste, ähm da und da bekommt man //es war konfus, es war einfach eine konfuse Zeit// es war konfus! Und vor allen Dingen wäre es ja für uns alle besser gewesen, man hätte ein Betrag im Monat und hätte nicht verschiedene Stellen anlaufen müssen, ja, also ähm
#00:35:41#
C. Jacobi: Also ich fass, ich fass das kurz zusammen, dass die die drei Monate für für dich und deine Kinder im Lager ne Zeit war, die ähm von von den Erinnerungen her einfach nicht mehr so präsent ist. Ganz einfach, weil es keine schönen Erinnerung waren //mhm// ja, und wie würdest du dann aus deiner Warte, aus deiner sag ich mal emotionalen Perspektive, das das Ankommen bezeichnen? Also hattest du dich auf das, was ich da erwartet hat ähm vorbereitet oder wenn ja, wie hast du dich vorbereitet?
#00:36:14#
L. Schulte: Nein, ich wusste nicht, was mich erwartet und. Ich habe mich der gewissen Täuschung hingegeben, der Täuschung, dass ich der Meinung war oder glaubte, ich kenne ja West-Berlin, ich war ja früher da. Dass sich natürlich aber in über 20 Jahren auch vieles verändert und noch mal ne ganz andere Situation ist, wenn man erwachsen ist und sich nach Beruf, nach nach Job, nach Unterkunft und all dem neu orientieren muss und suchen muss, ja.
C. Jacobi: Und alleine mit zwei Kindern orientieren //ja// muss //ähm// ich erinnere mich, es gab schon einen Bekannten oder einen für dich sehr sehr gut bekannten Menschen, der schon in West-Berlin lebte. Das war nämlich der Vater deiner jüngeren Tochter //Genau, genau, ja// genau das war deine, sag ich mal einzige erstmal Anlaufstelle, oder? //Mhm, ja// Bekanntschaft, ja, ansonsten warst du ja ähm bei den meisten Dingen dir selbst überlassen.
#00:37:13#
L. Schulte: Ja, ich hatte ja überhaupt keinen Anlaufpunkt, im Gegensatz zu meiner Familie, die viel später rüberkam und dann sofort von mir aufgefangen wurde, hatte ich ja gar keinen, bis auf den Vater von Wanda. Aber der war ja auch noch nicht so lange drüben. Also ne Unterkunft konnte er uns auch nicht geben. Der war froh //ja natürlich//, dass er ja natürlich, dass er ein ein Zimmer oder einen Raum hatte und außerdem war er äh Künstler, Maler und hat sowieso kaum Einkommen gehabt. Also ich konnte mich auf keinen dort stützen und das habe ich alles vorher nicht wirklich so durchdenken können und auch nicht durchdacht.
#00:37:55#
C. Jacobi: Ja, und du hast ja auch im Vorgespräch zu mir gesagt, du dachtest ja eigentlich, ich komm von zu Hause nach Hause, ich komm ins gleiche Land, aber das war //das wars nicht//, das war für dich nicht so ne?
#00:38:08#
L. Schulte: Nein, und das war für mich auch besonders irritierend, weil ähm ne innere Einstellung ist schon mal wichtig, um irgendwo was Neues anzufangen. Und wenn ich jetzt die innere Einstellung gehabt hätte, ich komme in ein fremdes Land, dann ist das noch mal ne andere Geschichte, als wenn ich glaube, ich gehe ja bloß, die sprechen Deutsch, die haben die gleiche Tradition, ich geh ja bloß ein paar Schritte weiter. Und da hats mich dann doch ganz schön, ich meine dies, natürlich auch objektiv, was du ja schon sagtest, die zusätzlichen ich alleine mit zwei Kindern und für alles kümmern, sorgen und das ist ja schon schon auch ganz objektiv ne Schwierigkeit, //absolut// ja.
#00:38:59#
C. Jacobi: Ihr hattet dann aber ähm das Glück, nach der Zeit im Lager, in der ihr eigentlich auch eine ähm eine zugewiesene Zimmer in einer WG eine //mhm// Art WG hattet, hattet ihr das Glück, dass ihr auch eine eine Wohnung gefunden habt nach der Zeit.
#00:39:15#
L. Schulte: Nach einem Vierteljahr hatten wir dann endlich auch eine Wohnung in Moabit gefunden und ähm inzwischen war auch der damalige Freund, aber auch erst nach einem Vierteljahr, war der auch dann rübergekommen. Ich hatte ja gesagt am Anfang, dass ich das mit dem Ausreiseantrag zusammen mit einem guten Freund gemacht habe, //ja//, ja und der hatte, der hatte ja auch seinen Antrag laufen, und der war ja auch Bestandteil der Gruppe, die den letzten Antrag nochmal insgesamt geschickt hat und er kam dann auch rüber und natürlich war es klar, dass er zunächst erstmal bei mir mit wohnt, also mit mir zusammenwohnte //ja// Wir haben auch ne entsprechend große Wohnung bekommen. Das war wirklich, die war nicht schlecht, die war gut, die Wohnung, ähm mit vier Zimmern und.
#00:40:06#
C. Jacobi: Und noch mal so ein bischen zum Kontext. Wie hast du dich ähm hast oder anders gefragt, hast du dich willkommen gefühlt, aufgenommen von von den von den West-Berlinern, von den Menschen die du da in deiner Umgebung als allererstes nach dem Ankommen, deiner unmittelbaren Umgebung hattest?
L. Schulte: Nein, also daran kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, dass ich mich so an, an wirklich, an Dinge erinnern kann, die für mich vielleicht damals sehr empathisch gewesen wären. Aber daran kann ich mich nicht erinnern.
C. Jacobi: Also ein Willkommensgefühl hat hat gefehlt //ja// so ein bisschen?
L. Schulte: Absolut ja.
#00:40:50#
C. Jacobi: Du hattest auch im Vorgespräch gesagt, dass es dich so ein bisschen enttäuscht hat, weil in den Medien das ja immer seitens der von der Westseite aus ähm auch propagiert wurde, dass diese Völkerverständigung stattfinden soll //mhm// und dass alle, die kommen, mit offenen Armen //mhm// empfangen werden und, dass ist in deinem Fall, dass du es anders empfunden hast und dass sich das enttäuscht, hat //mhm//, ne?
#00:41:13#
L. Schulte: Ja, also nein, ich kann da ich kann nicht viel dazu sagen, dass ich mich sehr empfangen fühlte oder oder
C. Jacobi: Ja und beruflich bist du dann ähm mit dem mit der Ausbildung, die du so hattest, ähm ist da ne Anerkennung von Nöten gewesen? Konntest du direkt wieder einsteigen?
#00:41:43#
L. Schulte: Ich musste das auch alles noch mal hier anerkennen lassen //ok// ja, und dann musste ich, aber das ist auch verständlich, noch mal eine zweijährige Assistenzzeit durchleben und, und dann habe ich nach der zweijährigen habe ich mich dann auch gleich selbständig gemacht. Das waren auch, ja, da haben wir noch in der Wilsnacker Straße gelebt, ja.
C. Jacobi: Wäre des, was gewesen, was du in der DDR auch angestrebt hättest, ne Selbständigkeit? Gab’s das überhaupt?
#00:42:17#
L. Schulte: Nein, das gab es nicht für Ärzte. Ich sach dir, es gab, ich weiß, von einer von einer damaligen Freundin, deren Vater war auch Zahnarzt, aber der war schon sehr alt, und der hatte seine Praxis in seiner Wohnung. Also das ist noch so, das war so die erste Zeit in den 50er 60er Jahren, wo man das noch so geduldet hat, ja, aus der, ich glaube aus der Nachkriegszeit, dass es da noch so n paar Selbständige gab, ne. Also man hat ja auch überhaupt den Zahnarztberuf als Studium erst viel später, ja, es waren ja noch viele, diese Zahnheilkunde wurde ja teilweise noch äh von von vielen, die gar kein Studium absolviert hatten, das kam ja dann erst alles allmählich, nee, das gabs da nicht. Und, und ich hab ähm ich habe einfach so für mich gedacht, das wäre das Beste ne Selbstständigkeit anzustreben. Und hab dann auch ne Praxis, eine erste Praxis in Wilmersdorf bekommen ja
C. Jacobi: Okay, und ähm wie hat sich der Kontakt zu deiner Familie in der Zeit zwischen 84 zwischen der Ausreise und 89, dem Fall der Mauer //ja// gestaltet?
#00:43:39#
L. Schulte: Also wir haben, wir haben dann um uns zu sehen, das war ein beiderseitiges Bedürfnis natürlich, äh denn ich wollte ja nicht meine Familie lassen, ich wollte ja bloß das Land, die DDR verlassen. Wahrscheinlich auch nicht, wenn man hätte, jederzeit die Grenzen wechseln können. Das sind ja viele, die auch das heute noch sagen, dass sie nicht unbedingt die DDR verlassen hätten, wenn die Reisemöglichkeit, die offenen Grenzen vorhanden wären //ganz genau//. Also ich finde, das ist immer wichtig, dass noch mal mitzubetonen //ja// aber es gab immer nur so eine endgültige Entscheidung, entweder oder ne. Also jedenfalls haben wir uns dann, äh wir hatten dann irgendwann beschlossen, wir können ja die Möglichkeit in Prag oder in der Tschechoslowakei oder auch in Ungarn…
C. Jacobi: Also in das in das Ausland, in das man reisen durfte, als DDR-Bürger?
#00:44:40#
L. Schulte: Ja genau das beide von beiden Seiten, dass wir uns dort treffen, und das haben wir auch sehr oft also zu bestimmten Anlässen, ob nun im Sommer war oder ob auch mal Weihnachten war. Also ich weiß, dass wir in Locket, es ist ein Dorf in der ČSSR gewesen, dass wir da Weihnachten alle verbracht haben oder den Sommer am Plattensee äh mit der Familie verbracht haben. Oder auch mal in Budapest waren oder in einem diesem Künstlerdorf Szentendre, das ist ein Dorf in der Nähe von Budapest. Also wir haben die verschiedenst, wir haben auch immer versucht, neue Ziele zu finden, damit es für uns auch gleichzeitig immer wie so ne kleine //wie n Urlaub// wie ein Urlaub und Sehenswürdigkeiten und alles so mit dabei ist.
#00:45:27#
C. Jacobi: Und das hat gut geklappt?
L. Schulte: Das hat ganz gut geklappt, ja, ja.
C. Jacobi: Und ähm wars denn andersrum auch möglich, dass deine Familie aus Ost-Berlin euch auch per Genehmigung einmal in West-Berlin besuchen durften?
#00:45:44#
L. Schulte: Nein, also da gabs den, den Anlass die Konfirmation meiner Tochter, und da hatten wir dann äh nicht, also meine Mutter eingeladen und auch ähm ich glaube, meine Schwester und sogar eine Freundin, eine enge Freundin – als Cousine, glaube ich, haben wir die bezeichnet, ja. Also, und meine Mutter wurde abgelehnt. Die hat es nochmal gemacht nochmal und ähm die wurde aber abgelehnt, sie durfte nicht rüberkommen, wogegen die Freundin, die konnte dran teilnehmen, ja.
C. Jacobi: Und das Foto, was auf unserer schönen Projekt Homepage verlinkt ist… auf dem Foto?
#00:46:24#
L. Schulte: Wir haben dann, als wir dann erfahren haben, dass sie nicht rüberkommen durfte, haben wir gesagt so jetzt gehen wir zum Checkpoint Charlie mit einer Tafel und demonstrieren jetzt! Wir wollen, dass die Oma oder, dass meine Mutter rüberkommt! Da haben wir da ein paar Tage immer so stundenweise gestanden, abwechselnd mal ich, mal die Tochter, aber es hat nicht geklappt, wir haben leider nichts erreicht.
C. Jacobi: Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass so ein Bild ne, so ein junges Mädchen mit mit Mutter und und Schwester äh tagelang wirklich mit nem mit nem Anliegen, was einfach familiär ist, dass das nicht die Herzen vielleicht erweichen konnte, war einfach nicht möglich.
#00:47:03#
L. Schulte: Nee, schade, dass niemand vom Fernsehen //jaa// oder von irgendjemanden oder vom Rundfunk gerade zu dem Zeitpunkt vorbeigekommen ist. Ja, also da hatten wir leider, konnten wir nicht irgendwie dadurch ein bisschen, prominent werden. (lacht)
C. Jacobi: Also der, der der Kontakt zu deiner Familie, der ist nie abgerissen.
L. Schulte: Nein, also wir haben uns mindestens zwei, dreimal im Jahr getroffen.
C. Jacobi: Sehr gut okay also da konnte eurer Familie konnten diese Grenzen //nein// nicht davon abhalten.
#00:47:37#
L. Schulte: Und ich weiß auch noch, als wir dann am Plattensee Mal waren, äh im Sommer, und da entstand der Gedanke bei meiner Schwester, “Sag mal, wie hast du das dann gemacht? Weißt du, es ist auch inzwischen bei mir und bei uns so, so vieles was was uns stört.” Ich muss dazu sagen, dass meine Schwester 16 Jahre jünger ist als ich und sie also, als ich ausreiste, einfach überhaupt noch nicht diesen Gedanken hatte und erst später, als sie dann auch älter wurde, dann kam dieser Gedanke. Ich glaube bei meiner Mutter mehr, dass sie so meinte, nee, also wenn ihr alle geht, dann komm ich mit, nicht so aus aus sie hatte sie hatte ja, sie war ein ein vollwertiges Mitglied in einem Großbetrieb in Ost-Berlin und sie hatte dort auch ne wunderbare Anstellung. Sie war eigentlich mit sich und der Welt zufrieden, ja. Kleine Welt, aber sie hat sich damit auch begnügt. Also sie hatte tolle Arbeitskollegen und das war ja auch das Wichtigste mit dabei.
#00:48:46#
C. Jacobi: Dennoch ist in deiner Schwester dann der Wunsch gereift.
L. Schulte: Da war sie aber schon erwachsen, da hat sie schon mit ihrem Mann zusammengelebt, also ja.
C. Jacobi: Und ist sie dann tatsächlich ausgereist, hat sie auch einen Antrag gestellt? //Meine Mutter hat//Die Schwester, die Schwester.
#00:49:03#
L. Schulte: Als meine Schwester mit ihrem Mann den Ausreiseantrag stellte, hat meine Mutter den mitgestellt. Ja, weil sie wie gesagt, sie wollte dann, also beide Mädels drüben. Nein! Das da wollte sie nicht zurückbleiben, ja.
C. Jacobi: Ja, das war dann aber mittlerweile auch schon 1989, richtig?
L. Schulte: Nein, der Ausreiseantrag wurde ja äh von denen auch früher gestellt //achso// also ich könnte jetzt gucken nach dem Datum //nicht so wichtig// aber also da, die mussten ja auch ne Weile warten bis…
#00:49:33#
C. Jacobi: Aber genehmigt worden ist er 1989?
L. Schulte: Genehmigt worden ist er dann 1989 im Juni ne, oder dann ja.
C. Jacobi: Also, also deine Schwester, deine 16 Jahre jüngere Schwester hat dann, als sie selber in das Alter gekommen ist, für sich beschlossen. Ich möchte auch, möchte auch ausreisen, hat den Antrag gestellt und infolgedessen hat deine Mutter gesagt, dann gehe ich auch mit //ja//, dann stell ich auch diesen Antrag und 1989 im im September //im September war des, ja// ist der dann genehmigt worden //genau// von deiner Mutter und auch Schwester und dem Ehemann richtig?
#00:50:09#
L. Schulte: Ja, genau, ja.
C. Jacobi: Und du hast deine Familie aufgenommen in West-Berlin?
L. Schulte: Mhm, wir hatten ne, wir hatten ne sehr große Wohnung, von daher war das vorübergehend auch möglich, dass wir alle zu uns geholt haben.
C. Jacobi: Ok, wieviel Leute wart ihr denn in einer Wohnung? Weißt du das noch?
#00:50:25#
L. Schulte: Na ja, wir waren, warte mal, wir waren sieben ja ich glaube sieben Leute, äh drei, vier, fünf Erwachsene na dann waren wir acht, und drei Kinder.
C. Jacobi: Und kannst du, kannst du noch?
L. Schulte: Also Franziska war natürlich schon ziemlich groß, ja, die war ja schon die wie war ja auch schon 17 18, ich glaube die war gar nicht mehr da, die hatte zu der Zeit, also sieben bis acht Leute, waren wir immer, ja
#00:50:52#
C. Jacobi: Und kannst du noch ähm vielleicht die Anekdote erzählen mit deiner Mama, dass sie ja eigentlich ähm gerne wieder zurückwollte und dann hier die Mauer gefallen ist.
L. Schulte: Sie hatte sich, von Anbeginn haben wir das gemerkt, dass sie sich //deine Mutter// eigentlich gar nicht so wohl fühlte. Ja, also sie hat die Wohnung kaum verlassen. Sie hat zwar so auch drinnen in der Wohnung so vieles gemacht, aber so sie hatte einfach nicht den Mut, alleine loszugehen. Im doppelten Sinne, ja, eigentlich wirklich auf die Straße gehen, aber auch für sich, so ein eigenes Leben aufzubauen und und. Von daher war es für sie wirklich ein Glücksumstand, dass ‘89 dann im November die Mauer fiel, weil sie dann kurzerhand, es kam natürlich auch dazu, Sie hat ihren Lebensgefährten verlassen zu der Zeit ja, und…
C. Jacobi: Der war noch da, der war noch drüben?
L. Schulte: Das war der, der mir auch die 20 West-Mark gegeben hatte. Den hatte sie ja verlassen, weil im ersten Moment waren ihr die beiden Kinder wichtiger, ja, und und ich glaube, Dem trauerte sie dann auch nach. Und äh und dann also als ich, ich weiß nicht, wies geworden wäre, wenn das nicht gewesen wäre mit der mit dem.
#00:52:15#
C. Jacobi: Ja, also wir, nochmal zusammenfassend für die Hörerinnen und Hörer, wir können uns das Szenario so vorstellen, dass ihr ne relativ große Wohnung hattet, du und deine beiden Mädels, und dort dann im September ‘89 nach genehmigter Ausreise, ähm deine Familie bestehend aus Schwester, Schwager und Mutter //meine Mutter// noch aufgenommen…
L. Schulte: Und ein, sie hatten inzwischen ein kleines Kind, ja.
C. Jacobi: Und noch ein kleines Kind, deine Nichte oder dein Neffe.
L. Schulte: Nichte, mhm.
C. Jacobi: …noch aufgenommen hast. Deiner Mutter ging es gar nicht so gut //nein// in der Zeit und tatsächlich fiel dann vielleicht auch zum, na ja, wohlgefallen deiner Mama ähm, die Mauer, sodass ihr ähm genau die Familienzusammenführung trotzdem noch weiter behalten konntet, aber sie in ihre gewohnten Gefilde zurück konnte //ja, ja// und so habt ihr dann ja jetzt wahrscheinlich eben den Fall der Mauer erlebt, oder, ihr habt den zusammen als Familie auf der Westseite erlebt?
#00:53:13#
L. Schulte: Ja also wir haben, meine Schwester ist dann doch bald, ist wiederum zu Freunden gezogen, weil da fühlte sie sich dann doch näher, also wir waren altersmäßig sehr weit auseinander und und hatten auch früher nicht so viel Kontakt miteinander und von daher fühlte sie sich dann zu den Freunden noch mehr hingezogen und dann sind die auch ausgezogen und und äh da erstmal dorthin und dann hatten sie auch später ne eigene Wohnung, ja. Also ich weiß gar nicht, ob die im September, Oktober, November kann sein, dass die noch bis November geblieben sind, also zwei oder drei Monate waren sie bei mir.
#00:53:55#
C. Jacobi: Und dann, dann würde ich dich ganz gerne jetzt fast zum Abschluss unseres unserer heutigen Folge, noch noch fragen, ob du dir eigentlich auch irgendwie vorstellen hättest können, in eine andere Stadt zu gehen, außer West-Berlin? Natürlich lag das nahe, ist deine Heimatstadt. Aber gab es diese, diesen Gedanken überhaupt auch?
#00:54:17#
L. Schulte: Also nicht wirklich, nein. Ich ich ähm brauchte, wenn ich das schon alleine mit zwei Kindern machen, brauchte ich zu dieses Gefühl, was ja dann nachher auch etwas trügerisch war, das Gefühl, ich komme irgendwo hin, wo ich mich schon ein bisschen auskenne. Und ja, von der Ortschaft sicherlich, aber die ganzen Gegebenheiten waren ja anders, das hatten wir ja auch schon erzählt, aber da aus dem Grunde hätte ich mir nicht vorstellen können, nur noch in eine ganz andere Stadt zu ziehen, wo ich überhaupt keine Erinnerungen habe oder hatte. Zumindest kannte ich ja ein wenig noch aus der Kindheit West-Berlin.
C. Jacobi: Ja, ja, also die Option war gar nicht da.
L. Schulte: Das hätte ich, nee, das hätte ich nicht gewagt, ja.
#00:55:01#
C. Jacobi: Und wenn du sagst es war oder beschreibst auch, dass ähm das Ankommen West-Berlin eben doch geprägt war von wirklich großen Unterschieden, du die dir so nicht hättest vorstellen können, was was war denn das, was das Leben im Ostteil für dich geprägt hat?
#00:55:20#
L. Schulte: Ich glaube, das hört man ja auch immer wieder von Ost-Berlinern oder oder Menschen aus, aus ähm, aus den umliegenden Gebieten, dass sie doch ein gewisses äh
Zusammengehörigkeitsgefühl haben und ich glaube, das entsteht natürlich auch immer aus einem gewissen Mangel. Wenn Not und Mangel da ist, und das hatten wir ja im Osten in vielerlei Hinsicht, wobei das nie das Entscheidende gewesen wäre wegzugehen, dann hält man zusammen. Dann hilft man sich untereinander, dann äh hat man die gleichen äh Interessen. Oder man hat die gleichen Positionen und die gleichen Gegner und äh das ist etwas, was einen ja, was einen schon so zusammenhielt. Wir hatten wirklich n richtig großen Freundeskreis. Natürlich wurde der auch immer noch größer zu dem Zeitpunkt, als wir dann uns entschlossen, den Ausreiseantrag zu stellen, weil dann gesellten sich natürlich alle Sympathisanten, die eben ähnliches dachten, vorhatten, darüber wissen wollten, das kam dann alles zusammen. Und natürlich haben wir dann vielleicht auch gedacht, das sind alles Freunde. Ist es nie. Das hat man natürlich später festgestellt, als wir nachher in West-Berlin war, hatten wir so gut wie überhaupt keine Verbindung mehr mit denen. Mit einigen Freunden aus dem Osten noch, ja, die haben wir sogar noch mit eingeladen nach Prag oder nach Budapest zu kommen die ersten Jahre. Da haben wir sogar die Fotos gibt es ja, wo also nicht nur Familie drauf war, sondern auch Freunde. Ja die wir dann gesagt, kommt, wir wollen uns noch mal zusammentreffen in Prag oder in Budapest! Später ging das auch weg und aber die alle, die mit irgendwann mit rüber gegangen sind, da gab es nachher keinen Kontakt mehr. Also ein bisschen Illusion ist es auch von von Freundeskreis, aber Interessengemeinschaft war da. Aber es gab natürlich auch dicke Freundschaften und es gab so, ähm in der Familie auch so so einfach so hübsche Begegnungen äh wie, wie zum Beispiel diese Anekdote, dass meine Mutter mit ihrem Lebensgefährten einen kleinen Garten mit Laube direkt an der S-Bahn zwischen Rummelsburg und Karlshorst hatte und wir natürlich gerne im Sommer sie dort besuchten, Kaffee und Kuchen. Ich habe schon immer gerne gebacken. Ich habe immer den Kuchen mitgebracht und und Mutter hat Kaffee gekocht und dann sagte sie schon immer vorher – Telefon gabs ja schon: “Wenn ihr mit der S-Bahn bei uns vorbeifahrt” – weil die S-Bahn fuhr, nämlich am Garten vorbei – “dann guck mal kurz raus, dann kann ich nämlich Kaffee schon kochen!” Und das war natürlich herrlich jedes Mal, wenn wir zu ihr fuhren, einmal kurz die Tür öffnen. “Hallo Mama! Wir kommen!” (lacht)
#00:58:24#
C. Jacobi: Ich glaube, das ist ein wunder, wunderschönes Bild, was sich die Hörerinnen und Hörer richtig gut vorstellen können! Ja, und ich finde, dass ist auch ein wunderbares Beispiel dafür, dass die Stereotype, die ähm nun auch immer noch existieren, in der in der Beschäftigung mit der DDR, vielleicht auch n bisschen aufgebrochen werden sollten, weil eben tatsächlich nicht alles, ähm nicht alles schlecht war, weil eben das normale, einfache Leben, die Vertrautheit, die Herzlichkeit und ähm ja, das Bild mit den mit den mit dem rufenden Verwandtschaft aus der S-Bahn, dass der Kaffee fertig gemacht wird, dass das einfach auch so eine ganz schöne Verbindung mit mit dem schafft, was die DDR eben auch war.
#00:59:06#
L. Schulte: Ich muss auch noch oder würde gerne noch sagen //gerne//, da meine Mutter ja in einem Großbetrieb, einem typischen Ost-Großbetrieb, gearbeitet hat, hat sie da eigentlich wirklich so viele, viele gute Erfahrungen, viele gute Mitarbeiter, Freunde und was die konnten in Ost-Berlin, diese Großbetriebe, die haben wirklich etwas auf die Beine gestellt für ihre Mitarbeiter. Die haben gefeiert, die haben Faschingsfeiern durchgeführt! Also da könnte sich manche können da Karneval abschauen. Ja, ich durfte, ich durfte dann, sie konnte immer meine Karte für mich mit besorgen. Also da wurde wirklich von, die Nacht durch bis nächsten Morgen getanzt. Jeder hatte wirklich n Kostüm an, es war geschmückt, es gab Bockwurst, Buletten und und diese typischen mit Kartoffelsalat. Es war sehr gemütlich und es gab irgendwelche Kräuterschnäpse ich weiß es gab einen Kräuterschnaps mit einem Elefanten, den haben wir immer als Jugendliche später gerne gekauft, weil da war aus Plastik oben drum ein kleiner Elefant. Ja, aber wie gesagt, die konnten wirklich richtig gut feiern und die haben auch tolle Betriebsausflüge gemacht. Es wurde was dafür getan, dass der Zusammenhalt da ist. Ja, das, das kann ich wohl sagen. Und das hab ich später viel später, als ich dann schon in in Schleswig-Holstein gelebt habe und eine Praxis in Flensburg hatte, und das haben meine Mitarbeiter, glaube ich, sehr an mir oder an unserer Praxis geschätzt. Jedenfalls haben sie das noch Jahre später gesagt, dass ich auch Betriebsausflüge Kanufahrten, Paddeln, Weihnachtsfeiern wirklich auch überall also versucht habe das noch mal so mit aufleben zu lassen.
#01:01:02#
C. Jacobi: Ja, oh das ist auch was, was du mitgenommen hast und noch unbewusst vielleicht auch.
L. Schulte: Genau das habe ich mitgenommen und diese Geselligkeit, die ist in unserer Familie auch wirklich geblieben. Wir versuchen noch, soweit es möglich ist, äh immer einen Zusammenhalt und Geselligkeit, ja zu finden.
C. Jacobi: Sehr schön. Sehr schön. Und ähm würdest du, würdest du sagen, dass du diese Geselligkeit, diesen Zusammenhalt, ähm einem Freundeskreis an an an Freunden die die auch wirklich, vielleicht auch noch länger dann zusammengehalten haben, dass du das auch in West-Berlin gefunden hast, dass du //Nein// in dem Sinne angekommen bist?
#01:01:41#
L. Schulte: Nein, nein.
C. Jacobi: Nein?
L. Schulte: Ich meine, ein Teil mag daran liegen, dass ich viel umgezogen bin, dann ja. Weil ich irgendwann, so schön, dass ‘89 war, dass sie alle rüberkommen konnten, aber mir wurde die Stadt zu voll. Ich hatte dieses Bedürfnis, ich möchte gerne raus. Ich war sowieso immer ein Naturmensch und äh und deshalb bin ich natürlich auch noch mal umgezogen und dann kann man auch nicht so große Freundschaften äh aufbauen.
#01:01:21#
C. Jacobi: Ja.
L. Schulte: Und ich hatte da, allerdings muss ich sagen, dass die Norddeutschen um, da braucht man ja erst ne Weile und mit denen warm zu werden. Aber wir hatten nachher echt gute gute Freunde gehabt, gute gute Nachbarschaft und.
C. Jacobi: Aber für die Zeit des Ankommens in West-Berlin ab ‘84, war war das ne Sache, die dich eher damit Schwierigkeiten begleitet hat? Oder du gar keine Zeit mehr dafür hattest?
L. Schulte: Ich hatte keine Zeit äh und das, das ging gar nicht //ok, ja ja//
#01:02:43#
C. Jacobi: Wie würdest du jetzt im Nachhinein die die Ausreise 1984 mit deinen zweiten Mädels, wie würdest du das rückwirkend betrachten? Würdest du es nochmal genauso machen?
L. Schulte: Eigentlich kann man sehr schwierig darüber eine Entscheidung oder ein Urteil fällen, weil ich habe die anderen Jahre nicht mehr im Osten gelebt. //genau// Ich weiß nicht, wie es, wie es weitergegangen wäre. Ich kann nur sagen, dass der Übergang einfach auch bedingt damals durch die, durch die Schwierigkeiten, die ich mit den Mädels, dass das da dadurch auch noch doppelt schwierig war und ich, ich war mir nie sicher, ob das von mir eine gute Entscheidung war. Wenn ich meine, meine Kinder, meine erwachsenen Töchter frage, auch noch heute, dann sagen sie mir, “Mama, es war eine gute Sache, die du gemacht hast” Aber ich hab, ich konnte so nicht ganz das Gefühl loswerden, dass ich ein bisschen meinen Kindern gegenüber verantwortungslos gehandelt habe. Es ist, war mein mein Gedanke. Ich glaube, wenn ichs alleine gemacht hätte, ich hätte die gleichen Schwierigkeiten, aber dann hätte ich gesagt, ok, dann hast du die ebend jetzt mal gehabt, bist hier durch und aber du warst schon, du warst schon fünf Jahre im Voraus drüben. Weißt du, ich sehe das auch noch heute, nicht unbedingt, ja, sag es, es war ja vielleicht mutig, vielleicht will ich mir das nur nicht eingestehen, dass es mutig war, weißt du.
#01:04:20#
C. Jacobi: Ja, ja, liebe Liane, ich ähm bedanke mich ganz recht herzlich für für unser Gespräch heute. Und ähm ja, möchte dir nur noch mal sagen, dass ich, dass ich finde, dass das ähm eine tatsächlich sehr mutige Entscheidung gewesen ist, mit mit zwei Mädels alleine, ohne ohne Mittel und ohne Bekanntschaften in West-Berlin, auszureisen.
L. Schulte: Also ich bedanke mich auch, ich habe das sehr gerne mitgemacht.
C. Jacobi: Vielen Dank. Diese Produktion wird gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Zusammenhang mit dem Projektfonds Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. Konzeption und Ausführung: Caroline Jacobi, Postproduktion und Musik: Joel Devon Laube.
#01:05:05#
Begleitende Informationen in Leichter Sprache
In der DDR gab es nur wenige Wohnungen mit Heizung, Toilette und warmem Wasser.
Die Mitglieder von der Regeriung bekamen die besten Wohnungen.
Für eine gute Wohnung musste man sich viele Jahre vorher bewerben.
Liane Schultes Tochter demonstriert am Ceckpoint Charlie. Auf Ihrem handgeschriebenen Transparent steht: Am Sonntag werde ich konfirmiert. Meine Oma […] aus Berlin-Ost […] (Karlshorst), darf nicht dabei sein. Ihre Anträge uns zu besuchen, sind jetzt das 4. Mal abgelehnt worden.
Identitätsbescheinigung, um sich nach der Ausreise weiterhin ausweisen zu können. Den ausreisenden DDR-Bürger:innen wurde der DDR-Pass während der Grenzkontrollen abgenommen. Es wurde vermerkt „Gültig zur einmaligen Ausreise nach West-Berlin über die Grenzübergangsstelle Bhf. Friedrichstraße“
Nach der Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft wird Frau Schulte wenig später die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt.
Neuankömmlinge im Notaufnahmelager Marienfelde wurden zuerst überprüft und versorgt. Anschließend mussten Laufzettel abgearbeitet werden: Frau Schulte sollte sich innerhalb weniger Tage nach Aufnahme beim Ärztlichen Dienst, der Sichtungsstelle, der Weisungsstelle und der polizeilichen Meldestelle vorstellen.
Flüchtlinge wurden von der Bundesrepublik mit 150 Mark je erwachsene Person und 75 Mark für jedes Kind unterstützt.
Kloppstockstraße 2, Berlin Tiergarten, mit Restaurant Giraffe.
Im Tiergarten unweit vom Bahnhof Zoo war das Restaurant Giraffe unmittelbarer Anlaufpunkt nach der Ausreise. Integriert in das „Wohnhaus Giraffe“ wurde das Restaurant 1957 eröffnet und existierte noch bis in die jüngste Vergangenheit weiter.
CC BY-SA 3.0. Wikipedia
Notaufnahmelager Marienfelde – Durchgangsheim – (Tempelhof)
Erbaut: 1952 – 1963; Bauherren: Senator für Bau- und Wohnungswesen und DeGeWo, 1962 Umwandlung eines Teils des Lagers in Mietwohnungen – zwischen Marienfelder Allee, Kaiserallee, Friedrichrodaer Straße, Kiepertstraße und Stegerwaldstraße (Luftaufnahme)
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. 0304748
Aufgenommen am 7. März 1956
Notaufnahmelager Marienfelde; Marienfelder Allee (Tempelhof) Essensausgabe
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. 0045839
Eine Flucht bzw eine Ausreise war kräftezehrend. So wie diese Dame, starteten viele Menschen nur mit einem Koffer und dem Allernötigsten in ihr neues Leben.
Aufgenommen am 7. März 1956
Notaufnahmelager Marienfelde; Marienfelder Allee (Tempelhof)
Warteraum
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. 0045837