Joachim Neumann
West-Berlin war für mich keine fremde Stadt. Bis zum Bau der Mauer habe ich mich oft dort aufgehalten
Transkript des Interviews
Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen zu Drüben und Dann, unserem kleinen DDR- Zeitzeug:innen-Podcast für Jung und Alt. Fünf gebürtige Ost-Berliner:innen berichten über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Leben in der DDR, dem Verlassen Ost-Berlins und dem Ankommen in West-Berlin. Im Mittelpunkt stehen dabei deren ganz persönliche Alltagserfahrungen, Hoffnungen, Perspektiven und Herausforderungen, verbunden mit dem Ankommen im fremdartigeren Teil der eigenen Heimatstadt. Gleich berichtet uns der heute 85-jährige Joachim Neumann von seiner spektakulären Flucht mit dem Pass eines schweizerischen Doppelgängers im Dezember 1961 nur wenige Monate nach dem Errichten der Berliner Mauer. Damit wurde sein, wie er es nennt „geistiger Notausgang“ nach West-Berlin geschlossen. Die DDR im Falle eines Falles mit der Waffe verteidigen zu müssen, dem stellte sich Herr Neumann entschieden entgegen und als Tunnelbauer verhalf er anschließend zahlreichen DDR Bürger:innen, darunter auch seiner späteren Ehefrau, zur Flucht.
J. Neumann: Mein Name ist Joachim Neumann, ich bin 1939 in Berlin geboren worden, bin dort zur Schule gegangen und habe ein Studium begonnen und bin im Dezember 1961 nach West-Berlin geflüchtet.
C. Jacobi: Ok. Und äh dazu würde ich sie ganz gerne erst einmal fragen, wie würden sie ihre Lebenssituation in der DDR beschreiben, und im Speziellen auch äh kurz vor ihrer Flucht?
#00:02:03#
J. Neumann: Bis zum Mauerbau im August 1961 war für mich als Ost-Berliner das Leben dort eigentlich relativ unproblematisch. Das hatte damit zu tun, dass auf der einen Seite der politische Druck sich in Grenzen hielt, weil die Oberen natürlich genau wussten, wenn sie die Schrauben zu sehr anziehen, dann ist der Weg nach West-Berlin nicht fern. Und zum anderen, und das war für uns als Jugendliche eigentlich noch wichtiger, wir konnten ja jederzeit nach West-Berlin fahren. Wir sind also gefühlt jede Woche ein Mal in West-Berlin ins Kino gegangen oder zu Jazzkonzerten oder zu ähnlichen Veranstaltungen und das war natürlich immer, ich sage immer, das war für uns so der geistige Notausgang.
#00:02:58#
C. Jacobi: Genau und dazu möchte ich auch noch mal betonen, dass ähm sich ihre Lebenserfahrung in der DDR und auch ihre Fluchterfahrung ähm sehr von denen unterscheiden die wir bisher schon angehört haben von denen Geschichten Biografien, denn die Flucht vor dem Bau der Mauer beziehungsweise genau in dem Jahr der des Baus der Mauer ähm barg schon einige Unterschiede und auch Besonderheiten, im Gegensatz zu Allem, was, was später noch die DDR Bürger:innen erfahren mussten. Zum Beispiel auch im Hinblick darauf, dass sie ja eigentlich schon sich recht gut in West-Berlin auskannten?
#00:03:43#
J. Neumann: Ja natürlich. Das war äh ganz wichtig für mich. Also als ich dann in West-Berlin war, das war für mich keine fremde Stadt. Ich sprach auch denselben Dialekt natürlich also ich fühlte mich da keineswegs fremd.
C. Jacobi: Wir hatten auch wie mit allen anderen schon ein Vorgespräch zusammen, und in dem Vorgespräch haben wir auch drüber gesprochen, dass die Menschen, die sozusagen den Bau der Mauer erlebten, wussten jetzt in dieser Situation ändert sich schlagartig etwas und all die, die erst viel später geflohen sind, wussten es ändert sich nie wieder etwas. Können sich daran noch erinnern?
#00:04:21#
J. Neumann: Ja, wobei ich sagen musste, das war auch ein gewisser Lernprozess. Ich habe nicht geglaubt, dass das auf lange Sicht so bleibt, und insofern musste es erst auch ne Weile so sein bis mir dann klar wurde, dass ist wirklich endgültig. Aber die Leute, die dann später noch geflüchtet sind, die hatten glaube ich diese Hoffnung dann sowieso nicht mehr, dass ich da noch irgendetwas ändert.
#00:04:48#
C. Jacobi: Und die Gründe haben sich später sicherlich auch merklich von denjenigen unterschieden, die sie jetzt auch hatten. Also welche Gründe haben direkt für sie ganz persönlich dazu geführt den Entschluss zu fassen ähm hier möchte ich nicht bleiben?
#00:05:03#
J. Neumann: Also die allgemeine Unzufriedenheit mit dem politischen System, die war ja immer vorhanden, aber das alleine hat nicht ausgereicht, solange die Grenze noch offen war. Nach Schließung der Grenze wurde der politische Druck deutlich erhöht. Das sollte äußerte sich zum Beispiel daran, dass wir uns verpflichten sollten, jederzeit die DDR mit der Waffe zu verteidigen, obwohl es noch keine Wehrpflicht gab und dass wir uns verpflichten sollten, nach Abschluss unseres Studiums dort einen Job anzunehmen, wo der Staat uns hinschickt. Das waren Sachen, die mir natürlich überhaupt nicht gefallen haben. Aber ob das alleine gereicht hätte, um mich zur Flucht zu bewegen das kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen. Der entscheidende Punkt, also sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte für mich, war die Verurteilung eines Schulfreundes zu einer hohen Gefängnisstrafe eigentlich wegen einer Nichtigkeit, und da wurde mir oder nicht nur mir, sondern auch all meinen Freunden schlagartig klar: In was für einem System lebst du hier eigentlich? Die können machen, was sie wollen mit dir und es hätte jedem von uns auch passieren können und das jetzt im Zusammenhang mit der gesamten Situation. Also Schließung der Grenze. Hier kommst du nie wieder raus! Verpflichtung zur Verteidigung der DDR mit der Waffe. Ich fand nicht viel, was in der DDR verteidigungswert gewesen wäre. Das alles zusammen war für mich der Grund zu sagen, Also hier will ich weg. Hier kann und will ich nicht länger leben!
#00:06:36#
C. Jacobi: Und diesen Entschluss haben sie, wenn mich nicht alles täuscht, doch recht schnell gefasst?
J. Neumann: Im Oktober habe ich wohl den Entschluss gefasst. Ich kann jetzt das Datum nicht mehr sagen, es war ja auch nicht ein Tag, es ist ja eine Sache, die reift so in einem. Aber es muss Oktober gewesen sein als ich so weit war, dass ich gesagt habe, also ich mach das hier nicht länger mit und geflohen bin ich dann tatsächlich im Dezember, so drei Tage vor Weihnachten.
#00:07:02#
C. Jacobi: Und wie alt waren sie da?
J. Neumann: Da war ich 22 Jahre.
C. Jacobi: Das heißt, genau auch mitten im Studien-, in der //Ja// Studienzeit?
J. Neumann: Ich hatte in der DDR angefangen Bauingenieurwesen zu studieren, hatte mein Vordiplom gemacht und ja.
C. Jacobi: Und konnten auch oder haben auch die Studienbedingungen, die wir jetzt gerade so ganz kurz angeschnitten haben, ähm mit dieser mit dieser Arbeitsplatzlenkung, also dass sie für die Aufnahme eines Arbeitsplatzes ihren Wohnort verlassen mussten, aber was würden sie sagen, welche Studienbedingungen haben sie da erlebt in der Zeit kurz vor vor dem Mauerbau und haben die für ihren Entschluss, die DDR zu verlassen, auch ne Rolle gespielt?
#00:07:46#
J. Neumann: Also nur eine untergeordnete Rolle. Ich habe ja dann in West-Berlin weiter studiert und kann nur sagen, dass die Studienbedingungen in Ost und West doch ziemlich unterschiedlich waren. Und ich meine jetzt gar nicht so die Studieninhalte, die sind glaube ich für die Bauingenieuren in Ost und West ziemlich gleich. Also der Beton ist der gleiche und die Statik ist auch dieselbe. Aber in der DDR war das Universitätssystem ziemlich stark verschult. D.h. wir hatten einen richtigen Stundenplan. Wir wussten genau, was wir am Mittwoch in der dritten Stunde hatten oder am Freitag in der ersten Stunde und das war in West-Berlin an der Technischen Universität natürlich völlig anders. Da konnte sich jeder aussuchen, in welche Vorlesung oder in welche Übung er wann gehen möchte, und konnte das sich selbst zusammenstellen. Ich habe ehrlich gesagt darin keinen großen Vorteil gesehen, denn gerade für junge Leute die vielleicht noch gar nicht so richtig wissen wos lang geht, ist es manchmal ganz gut, wenn sie so eine Art Leitfaden haben, dass man ihnen sagt „Also es ist sinnvoll, du fängst damit und damit an und das und das machst du erst später“. Da musste ich mich erst dran gewöhnen, als ich dann im Westen war, dass man alles sich selbst überlegen musste und ja man konnte natürlich herumfragen aber es es gab sozusagen von von oberer Stelle von der Universitäts-Leitung oder so etwas keine Vorgaben, konnte man machen, wie man wollte.
#00:09:20#
C. Jacobi: Diese aggressivere Stimmung, von der sie in unserem Vorgespräch gesprochen haben, hat die sich auch in der Universität verbreitet?
J. Neumann: In der DDR meinen sie jetzt?
C. Jacobi: Genau, kurz nach dem Mauerbau.
#00:09:31#
J. Neumann: Ja die war also sehr weit verbreitet und ich habe keinen kennengelernt in dieser Zeit, der den Mauerbau begrüßt hat. Also sie waren alle mehr oder weniger damit nicht einverstanden. Wobei natürlich, je nach Lebenssituation diese Anti-Haltung mehr oder weniger stark ausgeprägt war. Also die die Ost-Berliner oder die in der Umgebung von Berlin wohnten die waren wesentlich aggressiver und mehr anti-Mauer eingestellt als irgendwelche Kommilitonen, die an der Ostsee oder in Thüringen oder Sachsen wohnten. Die hat es nicht so stark berührt.
C. Jacobi: Und ähm weil wir in unserem Podcast ja auch vor allem Berlin thematisieren und vor allen Dingen auch verdeutlichen wollen, was das für das Leben in der geteilten Stadt bedeutet hat, ist es vielleicht auch noch einmal wichtig zu erwähnen, dass kaum vorstellbar ja Studierende in Berlin ja auch teilweise über Nacht von ihrem Studienplatz abgeschnitten waren. Ist das richtig?
#00:10:30#
J. Neumann: Ja natürlich. Es gab, ich weiß nicht, mehrere 1000 Studenten, die aus politischen Gründen zumeist in der DDR keinen Studienplatz bekommen haben. Also wenn man zum Beispiel nicht in der FDJ war, in dieser Jugendorganisation, dann war es so gut wie ausgeschlossen, ein Studienplatz zu bekommen und solche Leute haben sich dann in die West-Berliner Universitäten eingeschrieben. Vor Mauerbau war das ja kein Problem und sind jeden Tag also sind aus Kostengründen, bei den Eltern zu Hause wohnen geblieben und sind jeden Tag mit der S-Bahn oder wie auch immer in die Uni gefahren. Und die waren buchstäblich über Nacht von ihren Studienplätzen abgeschnitten, denn es kam noch hinzu, wer einmal in West-Berlin studiert hatte, der war ja beim Klassenfeind gewesen. Und dem wurde keine Chance gegeben, sein Studium in Ost-Berlin oder in der DDR fortzusetzen. Denen wurde also die Karriere buchstäblich zugenagelt. Die konnten nur noch als Hilfslaborant oder für irgendwelche niederen Arbeiten ins Berufsleben einsteigen.
#00:11:38#
C. Jacobi: Da trifft die Aussage „zur falschen Zeit am falschen Ort“ mehr als zu.
J. Neumann: Ja das muss man so sagen.
C. Jacobi: Und die Art und Weise oder die Entscheidung wie sie das Thema Flucht aus der DDR angehen wollen, wie sies anstellen wollen, die in diesen Tagen sicherlich auch viele andere ehemalige DDR-Bürger:innen beschäftigt hat. Wie haben sie Die dann tatsächlich umgesetzt? Wie ging’s weiter?
#00:12:06#
J. Neumann: Also zunächst mal waren wir mehrere wir waren ein sehr enger Freundeskreis also mindestens sechs von uns haben ganz oft und ganz intensiv darüber diskutiert, ob wir weg wollten und als wir wegwollten, wie wir wegkämen. Hatten aber keine Ahnung, wie das gehen könnte. Wir haben ziemlich schnell ausgeschlossen, es irgendwie zu versuchen über die Mauer zu klettern oder durch die Spree zu schwimmen oder durch den Stacheldrahtzaun zu kriechen, weil da ja also in meiner Erinnerung gefühlt fast jede Woche wurde ein Flüchtling erschossen. Das kam für uns nicht infrage. Dann haben wir überlegt, ob man sich zum Beispiel auf einem Binnenschiff verstecken kann, was zwischen dem Bundesgebiet und Berlin hin und her fuhr. Dann haben wir Kontakt versucht Kontakt zu den Schiffern aufzunehmen so von ner Brücke aus und die haben uns natürlich dann äh zu verstehen gegeben, dass sie ganz stark durchsucht werden, dass das hoffnungslos ist. Mit den LKW-Fahrern war das genauso.
#00:13:09#
C. Jacobi: Und in dem Zusammenhang erinnere ich mich noch an die Kartoffelanekdote. Würden sie die nochmal ganz kurz //Ja natürlich// erzählen?
J. Neumann: Also wir haben Kartoffeln genommen, haben einen Zettel reingesteckt und haben diese Kartoffeln von der Brücke aus auf diese Binnenschiffe geworfen und haben den Schiffern bedeutet, dass sie danach gucken sollten, denn die dachten natürlich erst, wir machen irgendwelchen Unfug. Und dann haben, aber da hat der ein oder andere doch kapiert, dass deine Nachricht drin ist und wir hatten da reingeschrieben, so sinngemäß, „Je nachdem wie stark ihr durchsucht werdet, hupt mal“ und dann haben die also was weiß ich 20-mal gehupt oder so also das war ganz klares Zeichen, dass sie der Meinung waren, also das geht überhaupt nicht Jungs, was ihr euch vorgestellt habt!
#00:13:55#
C. Jacobi: Und noch mal kurz zurückgefragt, von den Mauer-Toten von den Erschossenen, die beim Fluchtversucht sozusagen erwischt worden, haben sie das über über mehrere Ecken über den Buschfunk erfahren oder wurde sowas auch publik gemacht?
#00:14:14#
J. Neumann: Wir haben zu Hause West-Fernsehen geguckt und West-Rundfunk gehört und da haben wir das alles immer mitbekommen. Ich glaube nicht, dass das in den östlichen Medien veröffentlicht wurde, kanns aber nicht sagen, weil wir praktisch nie Ost-Rundfunk oder Ost-Fernsehen gesehen haben.
C. Jacobi: Das heißt ähm ihre Familie war von der von der Gesinnung, vom Freiheitsgedanken, vom vom von der Kritik gegenüber des Staates ähnlich ähm ähnlich gesinnt wie sie als junger Mensch //Ja ich// ist das das vielleicht übertragen worden?
J. Neumann: Ich bin sicher durch meine Eltern beeinflusst worden. Wobei ich sagen muss, meine Eltern waren ganz einfache Leute, Arbeiter. Die hatten weder mit den Nazis noch mit den Kommunisten was am Hut. Die die wollten eine eine Gesellschaftsordnung, wo man nicht drangsaliert wird. Und ich glaube, viel weiter haben die gar nicht gedacht und sie haben gespürt auch insbesondere, wie ihre Kinder drangsaliert wurden. Ich hab noch ne zwei Jahre ältere Schwester. Wir sind beide zur Oberschule gegangen und da war der politische Druck natürlich schon etwas stärker zu spüren, als irgendwo in der Grundschule bei den ganz Kleinen und das haben meine Eltern also absolut nicht gut gefunden und allein daraus ergab sich schon so ne negative Haltung in diesem System gegenüber.
#00:15:31#
Caroline Neumann: Und haben sie mit ihrer Familie mit ihrer Schwester, ihren Eltern ähm die Gedanken, mit denen sie sozusagen schwanger sind, mit den Fluchtgedanken, haben sie die geteilt untereinander?
#00:15:42#
J. Neumann: Den Gedanken, dass ich wegwollte, den hab ich erst einmal ganz alleine in mir sozusagen ausgebrütet. Und erst als es so weit war, als ich entschlossen war, weg zu gehen und mit meinen Freunden das besprochen hatte, hab ich dann irgendwann meine Eltern und meiner Schwester gesagt: „Ich muss hier raus!“. Und die Reaktion meiner Schwester war: „Wenn du drüben bist, versuch bitte mich auch rüberzuholen“ Und meine Eltern waren natürlich relativ traurig, aber sie haben es akzeptiert.
C. Jacobi: Ich denke so viel können wir sogar schon mal verraten ähm, dass es tatsächlich auch zu dem Szenario kam, dass sie versucht haben ihre Schwester zu holen.
J. Neumann: Ja, meine Schwester ist ein knappes halbes Jahr nach mir nach West-Berlin gekommen.
C. Jacobi: Darüber sprechen wir gleich im Anschluss. Wir gehen zuerst nochmal auf die Fluchtsituation ein, weil die ist auch auf jeden Fall sehr sehr sehr sehr spannend außergewöhnlich und erzählenswert. Sie haben sich also mit ihren Freunden zusammengeschlossen und diese Entscheidung gefällt und das waren alles Kommilitonen also das war im Studienalltag eingebettet, sozusagen?
#00:16:54#
J. Neumann: Die meisten Schulfreunde, nur einer war Kommilitone. Und einer meiner Schulfreunde der gehörte zu denen, die im Westen studiert haben und der sozusagen den Absprung verpasst hatte. Der saß jetzt also in Ost-Berlin fest und konnte nicht mehr weiter studieren. Und ein anderer Freund, das war ein Arbeitskollege von meiner Schwester, der hatte einen sehr guten Freund, der kurz vor dem Mauerbau nach West-Berlin gegangen ist und jetzt von West-Berlin aus also den Kontakt mit ihm gehalten hat. Das waren diese beiden Schienen, die wir verfolgt haben, um Kontakte nach West-Berlin zu haben. Und von beiden haben wir dann gehört, dass es Möglichkeiten gibt, dass es in West-Berlin Studenten gibt, die sich sozusagen darauf spezialisiert haben, Leute nach West-Berlin rüberzuholen. Und zwar mit ausländischen Pässen. Das war waren also zwei verschiedene äh Schienen, die wir hatten und wir haben das immer auch verglichen die Informationen, die wir dadurch bekamen. Es war ganz wichtig für uns, dass es also nicht zu Missverständnissen kommt, wenn man immer nur eine eine Stelle anzapfen kann wegen Informationen, weiß man ja nie, ob das alles 100-prozentig ist.
#00:18:19#
C. Jacobi: Wenn das jetzt Hörerinnen und Hörer hören, die etwas jünger sind, und sich jetzt vielleicht unter der, unter dem Ausdruck „mit ausländischen Pässen über die Grenze“ sich nicht viel vorstellen können, wie würden sie denen das erklären?
#00:18:32#
J. Neumann: Naja es war so, dass die Studenten in West-Berlin nach dem Mauerbau natürlich gemerkt haben, unsere ostdeutschen Kommilitonen sind ja irgendwie nicht mehr da!? Und haben dann Kontakt mit denen aufgenommen und haben gefragt jetzt Was ist mit euch? und haben die Nachricht natürlich mehr oder weniger deutlich bekommen: Wir dürfen hier im Osten nicht mehr studieren, wir würden aber gerne weiter studieren, aber dazu müssten wir West-Berlin sein. Und da sind die Studenten auf die Idee gekommen und haben ihre ausländischen Kommilitonen, also hauptsächlich aus den Nachbarländern der Bundesrepublik Schweiz, Österreich, Holland, Belgien, Dänemark haben die gefragt „Könnt ihr nicht noch mal in eurer Heimatländer zurückfahren und dort im Verwandten- und Freundeskreis Reisepässe sammeln? Wir wollen versuchen, mit diesen ausländischen Reisepässen unsere ostdeutschen Kommilitonen rüber nach Westen zu holen!“ Und das lief dann so, dass die ganze Geschichte auf Ähnlichkeit lief. Also: wenn einer der Fluchtwilligen das Glück hatte, dass ein Pass gefunden wurde, dessen Inhaber ihm ähnlich sah, oder muss eigentlich umgekehrt sagen, dass dieser Fluchtwillige einem dieser ausländischen Passinhaber ähnlich sah, dass er dessen Pass benutzen konnte, dann war es möglich, mit diesem Pass, der natürlich nach Ost-Berlin geschmuggelt werden musste. Also den musste man irgendwo am Körper oder weiß ich wo verstecken, dann konnte man mit diesem Pass versuchen über die Grenze zu kommen. Und bei mir hat das sehr gut geklappt. Ich habe einen Schweizer Pass bekommen und der eigentliche Passinhaber, der sah mir sehr sehr ähnlich und so konnte ich mit diesem Pass also die Grenze passieren.
#00:20:24#
C. Jacobi: Sozusagen ein Doppelgänger? Wenn mans so möchte. //Ja, ja, kann man so sagen// und ich erinnere mich noch, dass sie an dem Tag ihres Grenzüberganges, mit diesem Doppelgänger-Pass aus der DDR nach West-Berlin sogar auch etwas Schweizer Kleingeld dabeihatten, ne Fahrkarte ne Schweizer und sogar auch eine Postkarte. Was hatte es damit auf sich?
#00:20:45#
J. Neumann: Ja, der westdeutsche Student, der mir diesen Pass gebracht hat, der hat mir eben nicht nur den Pass gemacht gebracht, sondern so ein bisschen Schweizer Krimskrams. Ich erinnere mich noch genau: es war ein abgefahrenes Straßenbahnticket aus Zürich, es war ne alte Kinokarte aus Zürich, ja und es war ein bisschen Münzgeld. Und das hab ich alles in meinen meine Taschen getan. Wenn ich an der Grenze durchsucht worden wäre, hätten sie nur Schweizer Zeugs gefunden, denn ich durfte natürlich nichts mitnehmen, was auf meine wahre Herkunft hingedeutet hätte. Also keine Geburtsurkunde, keine Zeugnisse oder sowas. Die Gefahr, dass man an der Grenze direkt körperlich durchsucht werden konnte, die war relativ gering, aber es kam vor, und das wollte ich natürlich nicht riskieren.
#00:21:45#
C. Jacobi: Und was war mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie vielleicht auch etwas hätten reden müssen oder erzählen müssen?
#00:21:52#
J. Neumann: Ja die Wahrscheinlichkeit die konnte ich natürlich nicht einschätzen, und das war ein ein Risiko was halt blieb. Ich hatte keine Ahnung wie Schweizer Dialekt klingt. Selbst wenn ich’s ein bissl gewusst hätte, hätte ichs nicht nachmachen können. Das heißt, ich hatte mir überlegt: Du musst versuchen, überhaupt nicht mit den Grenzkontrolleuren da ins Gespräch zu kommen. Und das macht man am besten, indem man so einen arroganten Schweizer Touristen heraushängen lässt, also so ganz nach dem Motto: hier „Ich bin aus der neutralen Schweiz. Ihr könnt mir doch alle gar nichts!“
#00:22:27#
C. Jacobi: Hatten sie das geübt vorher?
J. Neumann: Nein, das hatte ich nicht geübt. Das hatte ich mir halt einfach nur so vorgenommen und naja, also wenn einem das Herz bis zum Hals klopft, ist es nicht so ganz einfach dann auch noch n arrogantes Gesicht zu machen, aber irgendwie ist es ja doch gut gegangen. Also der der einzige, der da sich mit mir unterhalten wollte, war einer dieser Grenzposten, der mich gefragt hat, ob’s mir in der Hauptstadt der DDR denn gut gefallen hat, oder so etwas Ähnliches. Und da hab ich irgendwie ein ein zustimmendes Grunzen von mir gegeben. Ich habe also nicht in einem Satz geantwortet, sondern irgendwie so „Mh Mh Mh“ sowas gemacht. Ja und damit war die Sache also erledigt und weitere Gespräche bin ich glücklicherweise nicht verwickelt worden, denn das wäre schief gegangen. Das das war halt das Risiko, was man eingehen musste.
#00:23:19#
C. Jacobi: Ja, sie hatten einfach wahnsinniges Glück an dem Tag auch.
J. Neumann: Man muss immer Glück haben //Ja// sonst passt, sonst gelingt Nichts im Leben, da kann man noch so clever sein.
C. Jacobi: Das stimmt, das stimmt. Aber man muss auch dazu sagen, dass die Grenzkontrollen ein paar Monate nach Schließung der Grenze sicherlich noch nicht so routiniert und scharf waren, wie sie das vielleicht im Jahr 85 gewesen sind.
#00:23:43#
J. Neumann: Einmal das und zum anderen, die DDR war ja immer sehr erpicht darauf, international anerkannt zu werden, und äh da ist sie also den Ausländern gegenüber doch also um einige Grade freundlicher gewesen als zum Beispiel West-Deutschen Besuchern. Die wurden viel mehr schikaniert, aber Ausländern gegenüber und auch noch gerade die Schweiz als neutrales Land, da hat man sich bemüht doch einigermaßen ja weltoffen zu erscheinen. Das war vielleicht auch noch ein glücklicher Zusatz-Umstand.
#00:24:17#
C. Jacobi: Der Grenzübergang, über den sie sozusagen gegangen sind, war auch Berlin Friedrichstraße? //Ja das war der S-Bahnhof Friedrichstraße// und ähm würden sie für uns kurz beschreiben wie, wie sie den Bahnhof, diesen geteilten Bahnhof, das Ankommen auf der anderen Seite, wie sie das noch ein bisschen in Erinnerung haben vielleicht?
#00:24:34#
J. Neumann: Hm bei mir war das noch so, es gab von der Straße aus einen Eingang in den Bahnhof, den man benutzen konnte. Das hatte mir natürlich der Student, der mir den Pass gebracht hat, genau beschrieben, denn ich hätte es ja eigentlich kennen müssen als Schweizer, und man ist also da zu einem bestimmten Eingang reingegangen. Da stand also ein Posten, der sich den Pass angeschaut hat, aber das ging ziemlich schnell und dann kam man in da, in die Vorhalle, die war abgetrennt. Also die normalen DDR-Bürger, die auch mit der S-Bahn fahren konnten, aber eben in andere Richtung, die waren da durch irgendeine provisorische Wand, wie gesagt, das war wenige Monate nach dem Mauerbau, abgetrennt und äh dann verschwand man also in einem Gang und kam in einen Raum. In diesem Raum stand ein Tresen so quer durch, und dahinter standen die Grenzposten. Da musste man den Pass abgeben. Der Pass wurde dann irgendwo nach hinten weiter gereicht, äh wo die den Pass jetzt selbst kontrolliert haben. Also, da haben sie geguckt, ob an dem Pass irgendetwas manipuliert worden ist. In der ersten Zeit haben die Studenten zum Beispiel die Passbilder ausgetauscht und die die Stempel nachgemacht. Aber die Kontrollen wurden dann immer immer schärfer, sodass das nicht mehr ging, das haben die dann gemerkt. Aber die haben sich ganz auf den Pass konzentriert. Die sind nicht auf die Idee gekommen, dass nicht der Pass gefälscht war, sondern ich. Und ich musste da vielleicht ich weiß es nicht mehr zehn Minuten oder vielleicht auch länger warten, dann kam der Pass zurück. War alles in Ordnung. Das war auch der der Mann, der sich mit mir unterhalten wollte und gefragt hat, ob’s mir in der Hauptstadt der DDR gefallen hat, und dann ging man nur noch zu einer Treppe, die zum Bahnsteig hoch führte. Und da stand noch mal ein Posten. Der hat noch mal den Pass angeguckt, ich weiß nicht warum und dann brauchte man nur noch den, die Treppe hochzugehen und da und das war der Bahnsteig, wo die S-Bahnen nach West-Berlin fuhren. Und der war durch die also gegen die anderen Bahnsteige auf dem Bahnhof Friedrichstraße auch durch eine Wand abgetrennt. Aber da muss ich sagen, hab ich keine Erinnerung mehr daran, denn ich kam die Treppe hoch und da stand eine S-Bahn abfahrbereit, so dass ich mich überhaupt nicht umgeguckt habe, sondern nix wie rein in die S-Bahn und die fuhr dann auch gleich los.
#00:27:07#
C. Jacobi: Und wussten sie dann zu dem Zeitpunkt, wo diese S-Bahn hinfahren wird, oder sind sie einfach erstmal eingestiegen?
#00:27:14#
J. Neumann: Das war gar kein Problem, alles S-Bahnen, die dort fuhren, es gibt ja nur eine Linie, die fuhren auf jeden Fall also bis zum Bahnhof Zoo. Da brauchte ich nicht zu fragen oder nicht zu gucken, dass war ganz klar.
C. Jacobi: Sie haben dann Bahnhof Zoo angesteuert? //Ja// Und sind dort ausgestiegen? //Ja// Und wie ging’s dann weiter?
#00:27:32#
J. Neumann: Dann bin ich zu meiner Cousine. Die hatte schon Familie, also ne Wohnung und Mann und Kind. Ja und da hab ich dann die ersten Nächte im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen, wobei ich also am nächsten Tag natürlich sofort in das Notaufnahmelager Marienfelde gefahren bin, um dort registriert zu werden.
C. Jacobi: Da würde ich gerne Zwischenfragen, mh sie hatten ja ihren Doppelgängerpass, den Schweizer Pass, ich würde ihn jetzt mal Doppelgängerpass nennen, ähm aber sie selber hatten ja keinerlei Identitätsnachweis dabei //richtig// oder?
#00:28:07#
J. Neumann: Nein überhaupt nichts. Also jetzt muss ich mal überlegen, jetzt weiß ich nicht mehr ganz genau. Entweder ich bin erst nach Marienfelde gefahren und hab mich dort gemeldet und da haben die mir gesagt „Naja zwei Tage vor Weihnachten, jetzt tut sich gar nichts mehr. Wir haben sie registriert und kommen sie im neuen Jahr wieder. Dann geht die eigentliche Prozedur los.“, es kann aber sein, dass ich erst zu der Adresse gefahren bin, die mir der Student genannt hat, der mir den Pass brachte, um diesen Schweizer Pass zurückzugeben und dann nach Marienfelde.
#00:28:40#
C. Jacobi: Das wäre jetzt meine Frage noch gewesen, wie der Pass überhaupt wieder zurück zum Besitzer gekommen sein //ja, ja// könnte?
J. Neumann: Den habe ich an diese Studentengruppe abgegeben. //Ok// Das war irgendeine Adresse an der Freien Universität, und äh die kannte ich also oder die hatte man mir gesagt und da bin ich hingefahren.
#00:28:54#
C. Jacobi: Ähm nachdem sie sozusagen sich, eins zwei Tage eingefunden haben bei ihrer Cousine und dann den Prozess in Marienfelde gestartet haben, wie hat ähm das ausgesehen, wie war das für sie?
J. Neumann: Ich muss vorher noch sagen, dass ich vorher also auch noch vor Weihnachten zur Technischen Universität gefahren bin und mich dort gemeldet hatte. Ich hatte natürlich auch keinerlei Nachweise, dass ich überhaupt in der DDR studiert hatte. Aber das hat die auch nicht weiter gestört. Die haben mir also so ne Art provisorischen Studentenausweis gegeben und das war schon mal immerhin was.
C. Jacobi: Das noch bevor sie sich in Marienfelde offiziell als //ja// Flüchtling gemeldet haben, haben sie sich als Studierender angemeldet? //Ja// sehr gut.
#00:29:38#
J. Neumann: Also, weil in Marienfelde war nichts, war gar nichts Weiter. Die haben gesagt „Komm im neuen Jahr wieder“, also ich bin dann wahrscheinlich am zweiten Januar, nehme ich an, nach Marienfelde gefahren und dann lief die Prozedur ab, die eigentlich bei allen Flüchtlingen veranstaltet wurde. Man bekam einen Laufzettel, wo, ich weiß nicht wie viel, gefühlt 20, 25 Stellen vermerkt waren, die man jetzt abarbeiten musste. Man wurde also immer von einem Zimmer ins andere geschickt und ja wurde befragt also da waren sämtliche Alliierten-Geheimdienste und deutsche Geheimdienste dabei. Da war das Rote Kreuz dabei. Da waren die Kirchen bei, da war die Gewerkschaft. Ach, ich weiß nicht, also jedenfalls alle Institutionen, die man sich vorstellen kann. Die musste man durchlaufen und und wurde naja mehr oder weniger bei allen dasselbe gefragt.
C. Jacobi: Und hatte sich denn, hatte sich niemand gewundert und gesagt „Sind sie denn wirklich Joachim Neumann?“. Wie war das?
#00:30:39#
J. Neumann: Ja das war natürlich schon äh, ein Punkt, aber ich habe ja gleich zu Anfang gesagt: „Ich habe keinerlei Nachweise, ich konnte keine Papiere mitnehmen auf meiner Flucht. Und mir hat dann sehr geholfen, meine Cousine hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass ich also derjenige bin und das hat mich aber nicht davor bewahrt trotzdem zur Kriminalpolizei geschickt zu werden, wo die mir die Fingerabdrücke abgenommen haben und und Fotos gemacht haben und dann wahrscheinlich in ihrer Verbrecherkartei nachgeguckt haben, ob ich schon mal irgendwo aufgetreten war. War ich aber nicht. Also das wurde dann abgehakt, und mit dieser Erklärung meiner Cousine waren sie zufrieden.
C. Jacobi: Und sie haben auch eine kleine möblierte Wohnung oder ein möbliertes Zimmer auch gefunden über das schwarze Brett der Uni, oder wie haben die das gefunden?
#00:31:31#
J. Neumann: Ne einfach über einen Makler.
C. Jacobi: Über einen Makler. Achso.
J. Neumann: Ich bin dann einfach zu, also ich habe vielleicht vier Wochen bei meiner Cousine da gewohnt, und irgendwo da um die Ecke war, war so ein kleiner Wohnungsmakler und da bin ich hingegangen und das war, also im Gegensatz zu heute, war das überhaupt kein Problem damals. Der hat mir glaube ich drei oder vier Zimmer angeboten ja und da hab ich gleich, dass das nächste hab ich gleich genommen.
#00:31:52#
C. Jacobi: Ja, und das Einfinden, sprich Sozialversicherung alles, was dazugehört, wie wie lief das ab für sie?
#00:32:01#
J. Neumann: Naja das war ein bisschen mühsam, weil ich davon natürlich keine Ahnung hatte. In der DDR gabs ja nur eine Krankenversicherung, also da, da war alles ich sag mal ganz einfach, und hier musste man sich überhaupt erst mal überlegen, „Was brauchst du denn eigentlich?“, gut ne studentische Krankenversicherung, das war klar, man man konnte auch in der Uni, da gab’s auch eine so eine Anlaufstelle, ich weiß jetzt nicht mehr, wie die hieß, die einem also schon den Hinweis gegeben haben, was man da alles machen musste. Aber ob man zum Beispiel ne private Haftpflichtversicherung abschließt oder nicht oder was sonst noch so alles gibt, das hat einem keiner gesagt.
#00:32:41#
C. Jacobi: Das wissen heute die wenigsten 22-Jährigen wahrscheinlich auch. (lacht)
J. Neumann: Ja das kann durchaus sein, ja. Ich war es nur von der DDR aus war ich es gewohnt, dass diese Fragen überhaupt nicht auftraten. Entweder es gab keine entsprechenden Versicherungen, ich weiß bis heute nicht, ob man in der DDR hätte eine private Haftpflichtversicherung abschließen können. Keine Ahnung. Diese Fragestellung gab’s einfach nicht.
#00:33:04#
C. Jacobi: Haben sie während dieser Zeit, also zwischen der Flucht über die Grenze, dem Ankommen bei ihrer Cousine, dem Aufnahmeprozess in Marienfelde und dem der Aufnahme ihres Studiums Kontakt zu ihrer Familie gehalten?
J. Neumann: Ja, aber nur über Briefe, anders ging es nicht. Also es gab keine Telefonverbindung zwischen Ost- und West-Berlin, mal abgesehen davon, dass meine Eltern zuhause eh kein Telefon hatten. Also telefonieren war nicht möglich, es ging nur über Briefe.
#00:33:35#
C. Jacobi: Wir haben ja gerade schon zu beginn darüber gesprochen, dass ihre Schwester ein halbes Jahr nach ihnen, nach West-Berlin kommen konnte und ähm sind die Absprachen dazu auch per Brief //nein// in diesen Briefen erfolgt?
#00:33:48#
J. Neumann: Das ging natürlich nicht. Also uns war klar, dass diese Briefe kontrolliert werden könnten, sodass man in Briefen also nur wenig heikle Sachen geschrieben hat. Und wenn es also um solche Sachen wie Fluchtmöglichkeiten gab, dann konnte man das auch nur über Kuriere machen. D.h. also Westdeutsche oder ausländische Leute, die ohne Komplikationen für einen Tag nach Ost-Berlin fahren konnten. Ost-Berliner, nein West-Berliner West-Berliner durften nicht nach Ost-Berlin zu dieser Zeit. Man musste also immer irgendjemanden finden, der aus dem Bundesgebiet war oder eben Ausländer war und der konnte jederzeit nach Ost-Berlin rüberfahren.
#00:34:33#
C. Jacobi: Wie würden sie die Zeit sozusagen das halbe Jahr beschrieben, bis sie ihre Schwester holen konnte[n], was ist da, was ist da passiert?
#00:34:40#
J. Neumann: Wir haben uns also wir waren mittlerweile drei oder vier Freunde die, denen es gelungen war, nach West-Berlin zu kommen. Und es waren also ungefähr noch mal so viele in Ost-Berlin geblieben und die Sache mit den Pässen die ging nicht mehr. Also ich war einer der Letzten, der diesen Weg gehen konnte. Äh, in dieser Gruppe von Studenten, die das alles organisiert haben, war ein Verräter, der das den DDR-Behörden gesteckt hat und damit war also, ich glaube so kurz nach Weihnachten die Sache vorbei. Die DDR-Behörden haben dann einfach jeden der nach Ost-Berlin zu Besuch einreiste registriert und wenn er wieder zurück wollte nach West-Berlin dann haben sie erst mal in die Liste geguckt, „Ja bist du denn überhaupt heute eingereist?“, und da diese Pässe mit der Ähnlichkeit ja geschmuggelt werden mussten, funktionierte das nicht mehr. Und dann haben wir natürlich gesucht. Was können wir denn jetzt machen? Wie können wir unsere Freunde, Verwandten rüber holen, und da war eben eine Möglichkeit mit einem umgebauten Auto. Auf diese Möglichkeit sind wir also über die gleiche Studentengruppe, die das mit den Pässen gemacht hat, die kannten nu wieder welche, die das mit dem Auto machten und haben uns da hin verwiesen. Und so ist meine Schwester und die Freundin meines Freundes. Die sind auf diesem Weg gekommen, dass hat aber Geld gekostet. Da musste ma also sehr viel Geld bezahlen, wenn ich mich recht erinnere, hat das 3000 oder 4000 DM, damals noch, gekostet. Und das waren ungefähr also mehr als ein halbes Jahresgehalt, das waren so sieben oder acht Monatsgehälter für für eine Laborantin zum Beispiel, was meine Schwester war. Aber das haben wir uns zusammengeborgt und und so funktionierte das, bloß auch diese Art der Flucht wurde immer schwieriger, weil die Grenzkontrollen immer weiter perfektioniert wurden. Also die haben dann zum Beispiel Spürhunde eingesetzt, die da um das Auto rumgelaufen sind und geschnüffelt haben, ob dort ein Mensch versteckt ist. Und äh insofern also abgesehen davon, dass das Geld natürlich auch das hätte nicht gereicht, um noch drei, vier Leute rüberzuholen, blieb diese Sache ne einmalige Sache. Also diese beiden Mädels sind rübergekommen, meine Schwester und die Freundin von meinem Freund und weiter haben wir diese Sache nicht in Anspruch nehmen können.
#00:37:10#
C. Jacobi: Und trotzdem haben sie aber nicht tatenlos weiter studiert, sondern haben sich ähm engagiert, darin weitere weitere DDR-Bürger:innen rüber zu holen und sind ähm auch übers Studium an Kontakte geraten, die sich im Tunnelbau bemüht haben, sehe ich das richtig?
#00:37:34#
J. Neumann: Ja nicht so sehr übers Studium, denn mit dem Studium war zu derzeit noch nicht allzu viel, ich bin also nur sehr sporadisch in die Uni gegangen. Die Kontakte kamen über, über Leute, die wir im im Notaufnahmelager Marienfelde kennen gelernt haben, die also auch geflüchtet waren, so wie wir. Und die hatten wieder Freunde, die schon ein paar Monate länger in West-Berlin waren, und so haben wir Kontakte zu dieser Tunnelbau-Szene bekommen. Und da wir ja noch Freunde in Ost-Berlin hatten, denen wir versprochen hatten, genau wie ich meiner Schwester es versprochen hatte, ihnen bei der Flucht behilflich zu sein, last but not least hatte ich auch ne Freundin in Ost-Berlin, haben wir also diese Kontakte ausgebaut und genutzt und äh haben dann gemeinsam, mit mit diesen neuen Freunden, wir waren dann vielleicht ne Gruppe von acht oder neun Jungs, äh Tunnel gebaut.
#00:38:32#
C. Jacobi: Und sie haben ja sicherlich nicht nur einfach Tunnel gebaut, sondern ähm es waren ja auch mehrere und es wurden ja auch einige Bürger darüber geschleust. Wie wie würden sie das in Zahlen nochmal zusammenfassen?
#00:38:49#
J. Neumann: Also insgesamt war ich in der Zeit von April ‘62, ging das glaube ich los, bis Oktober ‘64 an sechs Tunneln beteiligt. Davon waren also zwei sehr erfolgreich, dass waren auch glaube ich die erfolgreichsten Tunnel überhaupt. Und einer naja da sind nur drei Mädchen durchgekommen. Ich bin immer nicht ganz sicher, ob man den erfolgreich oder nicht erfolgreich nennen soll. Auf jeden Fall sind durch diese Tunnel, an denen ich beteiligt war, insgesamt 89 Menschen nach West-Berlin gekommen.
#00:39:25#
C. Jacobi: Und haben sie später nochmal engere Kontakte zu diesen Menschen aufbauen können?
J. Neumann: Nur sehr wenige. Also die die zwei oder drei die ich kannte, natürlich die Kontakte, die sind geblieben. Aber die weit aus meisten dieser Flüchtlinge, waren ja Freunde oder Verwandte von den anderen Tunnelbauern, also wenn jeder der an dem Tunnel mitgebaut hat, also später war das so, dass an jedem dieser Tunnel circa 20 Leute mitgebaut haben, ja und wenn da jeder ein oder zwei Leute rüber holen wollte, dann war das mögliche Kontingent ja schon fast erschöpft, denn diese Tunnel liefen ja nicht lange, die liefen ja meistens nur eine Nacht oder zwei Nächte, äh so dass also das auch in gewisser Weise begrenzt war. Ich habe zu zu einigen dieser Leute, die durch diese Tunnel gekommen sind, noch Kontakte gehalten. Aber naja es leben ja auch nicht mehr alle. //Mhm ja// aber ich habe noch sehr viele Kontakte zu den Tunnelbauern, also mit denen ich gemeinsam diese Tunnel gegraben habe, sowas schweißt glaube ich fürs Leben zusammen, wenn man mehrere Monate gemeinsam an so nem Tunnel gearbeitet hat, da sind Freundschaften fürs Leben draus entstanden.
#00:40:40#
C. Jacobi: Mhm, absolut. Die auch bis heute noch bestehen?
J. Neumann: Ja, sofern diejenigen noch leben.
C. Jacobi: Oder noch in Berlin leben? Oder leben die alle in Berlin?
J. Neumann: Also es gibt auch welche, die sind im Bundesgebiet, also einer ist in der Darmstädter Gegend, einer ist in München, einer ist in der Kölner Gegend, bei denen in Berlin natürlich klar, da ist es noch einfacher den Kontakt zu halten.
#00:41:02#
C. Jacobi: Sie haben also in einer recht kurzen Zeitspanne einfach also auch wahnsinnig viel erlebt. Also ähm Dezember ‘61 die Flucht mit einem Doppelgänger-Reisepass und ‘62 der Bau von vier Tunneln, an denen sie beteiligt waren. Sie hatten noch ihr Studium. Sie haben gerade so beiläufig erwähnt, ich sie sind nur gar nicht so frequentiert immer im Studium gewesen, ähm lag das daran, dass sie einfach wirklich mit vielen anderen Dingen beschäftigt waren, oder?
#00:41:32#
J. Neumann: Ja also Tunnelbau und Studieren, das kriegt man nicht unter einen Hut. Ein mal weil man nicht den Kopf frei hat, weil man beim Tunnelbau doch sehr angespannt ist und sich sehr konzentrieren muss. Und vor allen Dingen, es war ja körperliche Schwerstarbeit. Also man war nach so einer Zwölf Stunden Schicht, die wir immer gearbeitet haben, todmüde. Und äh zum anderen ist es auch ein völlig anderes Leben. Ich hab das jedenfalls nicht geschafft. Ich kenne auch kaum jemanden, der das geschafft hat, das zu kombinieren. Also auf der einen Seite normaler Student zu sein, der in die Uni geht und auf der anderen Seite nachts oder am Wochenende oder wann auch immer im Dreck zu liegen und Tunnel zu graben. Meiner Ansicht nach ist das fast unmöglich, das das gleichzeitig zu machen. Also ich habe mein Studium sehr sehr sehr schleifen lassen. Ich habe in diesen zweieinhalb Jahren, waren das wohl, also maximal so viel an Studium geschafft, wie andere in einem Semester schaffen würden.
#00:42:35#
C. Jacobi: Aber nichtsdestotrotz war unglaublich viel passiert, was fürs spätere Leben natürlich auch sehr prägend gewesen ist oder sehr prägend war?
J. Neumann: Naja, ich meine das Entscheidende war für mich natürlich dann, dass durch den letzten Tunnel, an dem ich beteiligt war, meine Freundin und spätere Ehefrau durchgekommen ist. Klar, dass war für mich nen Ereignis, was mein späteres Leben sehr beeinflusst, hat //Aber hallo// und ich hatte dann natürlich auch, naja ich sage mal, eine, eine moralische Stütze, um ein Studium wieder aufzunehmen, denn das war auch unglaublich schwer, wenn man zweieinhalb Jahre lang mehr oder weniger kontinuierlich im Dreck gelegen und gegraben hat, dann wieder umzuschalten und ins Studentenleben zurückzukehren. Ich weiß nicht, ob ich das ohne meine Frau geschafft hätte. Also die hat mir da sehr gut zu reden müssen und ich war drauf und dran das alles aufzugeben, weil ich gesagt hatte, das schaff ich sowieso nicht mehr, ich bin jetzt zu müde, ich kann nicht mehr studieren. Aber das hat mir dann sehr geholfen, dass sie mir da gut zu geredet hat.
#00:43:41#
C. Jacobi: Und würden sie die das das Rüberholen, das Rüberkommen ihrer zukünftigen Ehefrau vielleicht auch als den Zeitpunkt des des Ankommens dann des endgültigen Ankommens in West-Berlin ähm beschreiben?
J. Neumann: Ja, spätestens da, würde ich sagen. Ich ich denke ich bin zwei Mal angekommen. Ich bin einmal angekommen, als ich ja wirklich in West-Berlin war und dann diese anderen Leute kennengelernt habe beim Tunnelbau, die also zum großen Teil meine Freunde geworden sind, die es heute noch gibt. Das war so die erste Etappe des Ankommens. Aber das war irgendwie war das nur in einer bestimmten Sache war das was, war also nur auf den Tunnelbau beschränkt. Das zivile Leben in West-Berlin fand in dieser Zeit für uns ja auch kaum statt. Klar, wir sind auch mal n Bier trinken gegangen, aber ansonsten war der Tunnelbau das Entscheidende. Und äh da da war ich aber angekommen. Also da hatte ich eine Gruppe von vielleicht, na wir waren also vielleicht 20 Leute, die an diesen Tunneln gebaut haben und und mit vielleicht zehn davon war ich wirklich eng befreundet, wie das in so einer Gruppe immer ist, man ist nicht mit allen Leuten gleich gut befreundet. Da war ich schon durchaus angekommen. Bloß ich war noch nicht im normalen Leben angekommen, weil es das normale Leben eigentlich nicht gab für mich. Und das war dann aber nach Abschluss des letzten Tunnels und als meine Freundin dann da war, ja da bin ich dann das zweite Mal angekommen. Da bin ich dann auch ins normale Leben eingestiegen und wir haben dann geheiratet, wir haben ne Wohnung gehabt und wir haben beide studiert. Sie hat auch studiert und das war denn das endgültige Ankommen.
#00:45:27#
C. Jacobi: Sehr schön. Und gerade auch diese Zeit, die Zeit als Tunnelbauer, wenn sie das nochmal rückblickend betrachten, würden sie’s nochmal genauso machen?
#00:45:38#
J. Neumann: Hm, das ist eine Frage, die kann man eigentlich äh nicht beantworten. Ich denke mal, im Prinzip ja, vielleicht würde ich einiges anders machen. Man wird ja auch immer klüger man wird ja auch durch Schaden klug und wir haben sicherlich auch Fehler gemacht bei diesen ganzen Tunnelbauerein, aber ich sage mal, ich hoffe, dass ich noch einmal die Kraft und das Durchhaltevermögen aufbringen könnte, es noch einmal zu machen. Das haben wir uns vorher glaube ich alle nicht in dieser Form vorstellen können. Ich kenne zwar niemanden, der unterwegs ausgestiegen ist. Also alle haben den Tunnel zu Ende gebaut. Aber ob es Leute gibt, die so viele Tunnel wie ich gebaut haben, da habe ich meine Zweifel. Ich glaube ich war da einer derjenigen, die am längsten dabeigeblieben sind, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass ja meine Freundin bei einem dieser schiefgegangen Tunnel geschnappt wurde und ins Gefängnis kam. Und ich dann Tunnel weiter gebaut habe, in der Hoffnung, irgendwann kommt sie auch mal raus und dann brauche ich eine Tunnelbaugruppe. Denn ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es mal so weit kommt und dadurch, ja, bin ich immer dabeigeblieben. Das haben andere vielleicht nicht so lange durchgehalten. Aber ich glaube im Prinzip im großen Ganzen würde ich das alles nochmal machen wollen.
#00:47:09#
C. Jacobi: Mhm, und wir haben, wir haben bei unserem ersten Kennenlernen auch über über die Rolle der Stadt Berlin, auch dahingehend gesprochen, also für sie persönlich die Rolle der Stadt Berlin, und sie haben ähm das schöne den schönen Auspruch gemacht, dass es schon ein Unterschied, natürlich einen merklichen Unterschied zwischen den in Anführungsstrichen normalen DDR-Bürger:innen und den Berliner:innen gab.
J. Neumann: Ja ich glaube grundsätzlich war es, war es damals ja so, dass die Einwohner von Berlin n anderen Status hatten. Auch wenn die DDR das nicht so richtig wahrhaben wollte. Es gab ja diesen Vier-Mächte-Status, also ich kann mich zum Beispiel erinnern, dass ich Diskussionen mit meinen Kommilitonen in Cottbus beim Studium geführt habe, die waren fast alle gedrängt worden, ein paar Jahre zur Armee zu gehen, bevor sie studieren, wurden also in der Schule vorm Abitur angesprochen. Das gab’s bei uns in Berlin überhaupt nicht. Das war kein Thema. Berlin sollte ja auch in entmilitarisiert sein, nach dem Vier-Mächte-Status. Und ich denke für uns Berliner war es einfach wichtig, wir hatten jede Menge Freunde oder Verwandte auch in West-Berlin und von Anfang an, solange ich denken kann, also gleich unmittelbar nach dem Krieg war das völlig egal, ob der Onkel oder die Tante in Ost- oder West-Berlin wohnten. Es kam immer darauf an, wie viel Sympathie man für den Menschen empfand. Und äh das hat mich dann dazu bewogen, dass ich also unbedingt in West-Berlin bleiben wollte. Ich hätte ja auch nach München oder nach Aachen gehen können zum Studium, aber das wär für mich fast wie Ausland gewesen, aber in Berlin war ich zu Hause. Und ich denke, dass das auch das hat mir auch sehr geholfen. Später war das dann nicht mehr so. Als ich mit meinem Studium zu Ende war, hab ich dann noch ein Jahr in Berlin einen Job gehabt und dann hat mich die Firma gefragt, ob ich nicht ins Bundesgebiet gehen will. Ja warum nicht. Da waren beruflich bessere Aussichten. Also da hatte ich dann dieses, wie soll ich sagen, dieses „Ressentiment“ nicht mehr, bloß nicht aus Berlin weg oder woanders in ne andere Stadt. Es hat sicherlich auch damit zu tun gehabt, dass man in der ersten Zeit genug fremde Eindrücke hatte und da wollte ich wenigstens in Berlin bleiben. Aber um noch mal auf die Frage zurückzukommen, die anderen Kommilitonen in Cottbus, die also nicht aus Berlin waren, die hatten auch gar nicht so ne Bindung logischerweise und es gab da viele die waren noch nie in ihrem Leben in West-Berlin gewesen, was was mich als Berliner natürlich, also völlig konnte ich gar nicht verstehen. Und ich, ich weiß, dass einmal zwei Freunde von mir also übers Wochenende mit zu mir nach Hause gekommen sind und mich dann gebeten haben, sie nach West-Berlin zu begleiten. Das war für die wie n Ausflug in eine andere Welt, und für mich war das ganz selbstverständlich und die haben gestaunt. Also das war schon, war schon merkwürdig wie wie weit entfernt, und zwar jetzt nicht Kilometer-mäßig, sondern so vom vom Lebensgefühl her, Leute, die von der Ostsee kamen oder aus Sachsen, vom westlichen Leben waren. Die konnten ja auch kaum westliche Sender empfangen, also die wussten, die wussten verdammt wenig.
#00:50:33#
C. Jacobi: Ja. Die West-Berliner waren sprichwörtlich einfach näher dran, ne?
J. Neumann: Ja, ja. Und die Ost-Berliner dadurch auch.
C. Jacobi: Ganz genau. Ganz genau. Mh ich habe noch eine allerletzte Frage zum Abschluss: ich weiß ja, dass sie nach Frankfurt am Main dann gegangen sind. Wie haben sie, vielleicht auch sie und ihre Frau, dann ähm den Fall der Mauer und den beginnenden Transformationsprozess miterlebt?
#00:51:04#
J. Neumann: Also den Fall der Mauer, das war ähnlich, wie beim Bau der Mauer, haben wir nicht glauben können. Ich weiß noch genau, wir saßen abends beim Fernsehen als diese Pressekonferenz von dem Herrn Schabowski war, wo der sagte, dass die DDR-Regierung also beschlossen hätte, dass jeder auch ohne vorliegen eines Grundes ins westliche Ausland reisen darf. Und da habe ich meine Frau angeguckt und hab gesagt „Was erzählt denn der für ein Quatsch? Wenn die jeden reisen lassen, wozu brauchen Sie denn noch ne Mauer?“ Also wir haben es beide nicht verstanden und haben gedacht, das ist irgendein Propagandatrick oder ein Missverständnis oder also wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. Wir sind dann irgendwann schlafen gegangen. Und am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen, ich weiß noch ich hatte n Meeting im Büro mit ausländischen Gästen und wir saßen da. Plötzlich kommt meine Sekretärin rein und schiebt mir einen Zettel hin, „Dringendst ihre Frau anrufen!“. Das hat meine Frau sonst nie gemacht, mich da zu stören. Also dachte ich jetzt ist irgendwas passiert, das Haus brennt oder die Kinder sind verunglückt oder, ich war so ein bissl in Panik, weil ich dachte, wenn sie mir so einen Zettel zukommen lässt, da ist wirklich was Ernstes. Hab das Meeting unterbrochen. Bin in meinem Büro und hab angerufen und da sachte sie: „Ich sitze vorm Fernseher und sehe, wie sie in Berlin auf der Mauer tanzen.“ Ja also da war ich sprachlos, da bin ich also fast vom Stuhl gefallen, ich konnte das, ich habe dreimal nachgefragt, habe gesagt: „Siehst du irgendeine Sendung?“ „Nein das ist wirklich wahr!“ Das habe ich dann natürlich gleich im Büro verkündet, die anderen wussten das natürlich auch alle nicht, und das hat eine Weile gedauert, ja, bis ich das so richtig verarbeitet habe. Und ich wollte dann am liebsten nach Berlin, aber das ging leider nicht. So habe ich das alles nur im Fernsehn erlebt.
C. Jacobi: Ging nicht wegen der Arbeit? Konnten sie nicht weg?
#00:53:04#
J. Neumann: Nein, ich habe keinen Flug gekriegt. Ich wollte von Frankfurt nach Berlin fliegen, ich muss dazu sagen, wegen meiner Fluchthilfe Vergangenheit, Tunnelbau und so weiter, durfte ich nicht die Transitwege benutzen ich stand ja in der DDR auf der schwarzen Liste. Und solange es die DDR gab, durfte ich mich da nicht sehen lassen. Also ich war auf Flugzeug angewiesen und alle Flüge waren ausverkauft, da war ich einfach zu spät.
C. Jacobi: Die waren über Nacht ausverkauft.
J. Neumann: Die waren über Nacht ausverkauft, ja.
C. Jacobi: Ok. Ja vielen, vielen Dank Herr Neumann. Diese Produktion wird gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Zusammenhang mit dem Projektfonds Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. Konzeption und Ausführung: Caroline Jacobi, Postproduktion und Musik: Joel Devon Laube.
#00:53:56#
Begleitende Informationen in Leichter Sprache
Man durfte in der DDR nicht alles im Fernsehen zeigen.
Die Regierung bestimmte das Fernsehprogramm.
Darum schauten viele Menschen im Geheimen verbotenes Fernsehen West Fernsehen.
Das West-Fernsehen kam aus der Bundesrepublik Deutschland.
Dort gab es viel weniger Regeln.
Über das West-Fernsehen bekamen die Menschen in der DDR viel mehr spannende Infos.
Viele Menschen wollten aus der DDR fliehen.
Sie waren dort eingesperrt und durften nur in wenige Länder reisen.
Das Notaufnahmelager Marienfelde gab es von 1953 bis 1990.
Es war die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der DDR.
Sie mussten sich als erstes hier anmelden.
Danach bekamen sie Essen, einen Platz zum Schlafen und etwas Geld.
Studierende waren praktisch über Nacht von ihren Studienplätzen abgeschnitten
Wir schmissen mit Nachrichten gespickte Kartoffeln auf Binnenschiffe.
Noch bevor er sich um eine Wohnung kümmerte, schrieb sich Joachim Neumann nach seiner Flucht an der TU Berlin ein. Dieses Foto zeigt das Hauptgebäude der Technischen Universität, Straße des 17. Juni, aufgenommen am 13. August 1970
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (05) Nr. 0141920
Ich denke ich bin zwei Mal angekommen. Zuerst als Teil der Tunnelbauer-Gruppe, die zum großen Teil meine besten Freunde geworden sind. Da bin ich aber noch nicht im normalen Leben angekommen. Dann aber nach Abschluss des letzten Tunnels und als meine Freundin dann da war, ja da bin ich dann das zweite Mal angekommen.