Angela Schulze
Transkript des Interviews
Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen zu Drüben und Dann, unserem kleinen DDR- Zeitzeug:innen-Podcast für Jung und Alt. Fünf gebürtige Ost-Berliner:innen berichten über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Leben in der DDR, dem Verlassen Ost-Berlins und dem Ankommen in West-Berlin. Im Mittelpunkt stehen dabei deren ganz persönliche Alltagserfahrungen, Hoffnungen, Perspektiven und Herausforderungen, verbunden mit dem Ankommen im fremdartigeren Teil der eigenen Heimatstadt. Heute zu Gast in unserem Podcast „Drüben und Dann“ ist die ehemalige Weißenseeerin Angela Schulze. Frau Schulze konnte nach einem missglückten Fluchtversuch 1978, letztendlich im Jahr 1980 legal über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin ausreisen. Lediglich einen Klappstuhl, ein Familienerbstück, und einen Koffer hatte sie am Tag der Ausreise bei sich. Von da an wandte sich Vieles zum Guten. Freunde nahmen sie zunächst in deren Wohnung auf, sie fand eine Arbeitsstelle, und die ersten Fern-Reisen wurden unternommen – und Ihr ausgesprochen großer Lebenshunger wurde nach dem Verlassen der DDR in West-Berlin gestillt.
#00:01:38#
A. Schulze: Ja, mein Name ist Angela Schulze. Ich bin im Mai 1952 geboren, in Berlin Pankow, habe meine ganze Jugend aber in Berlin Weißensee verbracht. Ich bin dort zur Schule gegangen, bin, hab dann Abitur gemacht, am Ostbahnhof, in einem, ja wie man sagt heute, Gymnasium, also Erweiterte Oberschule, Andreas Oberschule. Und hab 1970 dort Abitur gemacht und anschließend Zahnmedizin studiert, fünf Jahre lang! Und war dann 1973 also Zahnärztin, musste aber dann raus aus Berlin, aufgrund der Absolventenlenkung hat mich der Staat halt in Rathenow gebraucht. Ich hatte keinen Mann, der unabkömmlich war und auch kein schulpflichtiges Kind, was eventuell noch ein Grund gewesen wäre, um in Berlin zu bleiben. Das alles konnte ich nicht vorweisen, also musste ich nach Rathenow. Was ganz schrecklich war, weil, ich war ja noch nie irgendwo anders und musste also nun ganz alleine nach Rathenow. Habe meine Wohnung aber in Berlin behalten und bin halt immer am Wochenende wieder zurückgekommen.
#00:02:51#
C. Jacobi: Ich weiß von ihnen, dass Ihr Fluchtversuch im Winter 1978 stattgefunden hat, das heißt um welches Jahr herum waren sie in Rathenow?
A. Schulze: Da war ich von 1975-78.
#00:03:07#
C. Jacobi: Und aus unserem Vorgespräch wissen wir oder weiß ich ja schon, dass sie tatsächlich eben im sehr sehr eiskalten Winter 1978 einen Fluchtversuch über die ungarische Grenze in einem Audi unternommen //JA// haben. Erzählen sie uns doch mal davon.
A. Schulze: Also die Flucht wurde organisiert von Freunden aus West-Berlin. Äh, wir sind, mein Freund, mein damaliger Freund eben und ich wir sind nach Ungarn gefahren und sind dort äh in irgendeinem Waldstück in ein Auto gestiegen, welches ein Audi 100 war. Sind zwischen Kofferraum und Rücksitz eingepfercht gewesen. Der Kofferraum war aber nur so lang wie, oder so tief wie beim Audi 80. Und dass fiel an der Grenze auf! Irgendein Offizier kannte sich also mit Autos nun TOLL aus, jedenfalls hat der uns dann ERWISCHT! Wir mussten dann eben aussteigen, rauskrabbeln.
#00:04:13#
C. Jacobi: Das heißt, ein Grenzer kannte sich mit einem West-Auto aus?
A. Schulze: Ja natürlich!
C. Jacobi: Sehe ich das richtig?
A. Schulze: Ja natürlich! Ja klar. Es war ja die Grenze von Ungarn nach Österreich und da waren wir wahrscheinlich überhaupt gar nicht die ersten die fliehen wollten. Wir sind dann in irgendeiner Grenzstadt, deren Namen ich nicht mehr weiß, irgendwie kompliziert Ungarisch, eben verhaftet worden und dort vier Wochen, über vier Wochen, im Knast gewesen. Es lag aber daran, dass wir da vier Wochen waren, weil man uns wegen des Winterwetters, welches nun also, Europa war im Schneechaos versunken, jedenfalls konnte man uns nicht transportieren. Deswegen mussten wir dableiben.
#00:04:56#
C. Jacobi: Und es war so ein eiskalter Winter, sie waren hatten eigentlich vor im Auto zu fliehen, wie waren sie denn ausgestattet? Wie hat sich die, die U-Haft dann in Ungarn gestaltet? Wie war das für sie?
A. Schulze: Also was ich, an Gepäck hatten wir ja natürlich irgendwie gar nichts mit. Ne ich glaube nicht, oder hatten wir ne Tasche? Also das weiß ich schon gar nicht mehr. Doch ja, irgendwas müssen wir ja mitjehabt haben. Jedenfalls hatte ich also Wintersachen an, klar, und äh musste aber dort in der U-Haft halt äh meine Strumpfhose abgeben, damit ich mich nicht zufällig aufhänge, und hatte demzufolge nackte Füße. Und des war geradezu überhaupt nicht witzig, weil natürlich der Knast auch nicht so sehr jeheizt war, im Gegenteil. Also ich hab nicht nur wegen der kalten Füße, aber ich hab ja grundsätzlich nur jeheult. Also in Erinnerung hab ich vier Wochen lang geheult. Und äh dann wurde aber da schon kams zu irgendwelchen Vernehmungen, also irgend son ungarischer Stasi-Fritze hat mich da ebend befragt mit einem Dolmetscher. Der Dolmetscher war so n alter Österreich-Ungar, der hat dann immer gefragt „Der Herr Offizier lässt fragen, so und so“, und „Der Herr Offizier hat gesagt“, also es war eigentlich im Grunde jenommen ne skurrile Situation, aber dann hab ich jesagt „Sagen sie mal bitte dem Herrn Offizier Bescheid, dass ich eiskalte Füße habe und äh es geht irgendwie nicht mehr“, und dann hat der dafür gesorgt, dass ich Socken kriechte, aus dem Gepäck der beiden Fluchthelfer. Ungetragene! Die rochen wunderbar nach Westwäsche.
#00:06:33#
C. Jacobi: (lacht) Und das hat dann den kalten Füßen ein ganz klein wenig Abhilfe //Ja, ein bisschen!// geschaffen? //Ja//. Ok. Und wie ging’s dann weiter für sie?
A. Schulze: Dann sind wir nach Budapest transportiert worden, in einem Auto. Konnten uns praktisch n bissl absprechen, was wir wie sagen. Und dann waren wir ja in Budapest, da in deren Stasi U-Haft und natürlich ja jetrennt klar, und ich war mit einer Polin zusammen, die aber kein Deutsch sprach, und wir haben uns dann irgendwie radebrechend, wir hatten ja beide in der Schule Russisch, zwangsweise, irgendwie so ein bisschen verständijen können, aber eigentlich nicht so wirklich. Und da kam dann ein Ost-Stasi-Offizier und hat mich dort interviewt. Er hat aber schon gleich zu einen, zum Anfang gesagt „Ich würde ja lieber mit ihnen durch Budapest schlendern und einen Sekt trinken, das wäre doch viel netter.“ Daraufhin hab ich natürlich entsetzt jeguckt und da sagt der „Ich weiß doch, sie trinken so gerne Sekt!“. Woher er das nu wusste oder ob er einfach aufn Busch jeklopft hat, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich, er könnte es jewusst haben, denn ich war ja schon vorher auffällig bei der Stasi.
#00:07:49#
C. Jacobi: Wie kam das zustande?
A. Schulze: Das kam zustande, weil 1973 mein damaliger Freund, Schulfreund, abgehauen ist und mir, also erfolgreich, mir aber schrieb. Und ich hab zurückgeschrieben natürlich, ganz wichtig, ohne Absender, aber natürlich habe ich „Angela“ hingeschrieben, und es wurde dann, wie ich nun aus den Stasi-Akten weiß, recherchiert „Wer könnte das nun sein?“. Also das gesamte Studienjahr wurde durchgeforstet, wie viele Angelas es damals waren, weiß ich nicht. Jedenfalls von einer habe ich dann noch die Kopie vom Ausweis in meiner Stasi-Akte gefunden, und man hat dann durch Schriftproben rausgekriegt, dass ich das nun wohl bin, und dann war ich natürlich unter Beobachtung, also 1973 schon. Das hat sich aber dann irgendwie verleppert, weil ich ja irgendwie mich ordentlich verhalten habe. Bis 1978.
#00:08:59#
C. Jacobi: Bis 1978. Der kalte Winter in Ungarn, die vier Wochen im kalten Ungarn, der Besuch vom Stasi-Offizier. Wie ging’s dann weiter?
A. Schulze: Dann sind wir mit einem Spezialflugzeug, mit einem Extraflugzeug, von Ungarn nach Berlin geflogen worden. Das Flugzeug war irgendwie notwendig, weil das davor war schon voll. Es war voller Flüchtlinge. Es sind also ganz viele erwischt worden und wir hatten da nun offensichtlich, in Dem nu keinen Platz mehr oder ja irgendwie jedenfalls sind wir halt alleine transportiert worden. Und dann kam jeder in seine U-Haft. Also ich kam, ne oder waren wir glaube ich, wir waren beide glaube ich in Pankow, ich weiß schon gar nicht mehr. Ja, also ich war jedenfalls in der Stasi U-Haft in Pankow, und wurde da halt ein halbes Jahr lang verwahrt. Irgendwann kams dann zu ner Verhandlung, //Ja// wo man ja vorher schon wusste, was nun eigentlich das Urteil sein wird. Ja es warn denn bei mir eben dreieinhalb Jahre. Das kam zu Stande wegen Fluchtversuch in einer Gruppe. Wir waren ja zu zweit, die Fluchthelfer waren auch zwei. Also war es auch eine Menschenhändler-Organisation. Dann hatten wir, äh ich glaube 100 DM dabei und noch ein paar Forint, oder irgendwas, jeweils war es also ein Devisenvergehen, dass kam dann noch dazu, und rund um war’s dann eben dreieinhalb Jahre. Und dann kam ich nach Hoheneck. //Ins Frauengefängnis// Ins Frauengefängnis Hoheneck, welches eben ja politische Gefangene, also sag ich jetzt mal, politische Gefangene beherbergte und natürlich auch die ganzen „Langstrafer“, also die wirklich Hochkriminellen. Das war die weise Mischung.
#00:10:43#
C. Jacobi: Das war dann wahrscheinlich 1979 zu Beginn des Jahres? //Ja genau// Und ähm wenn wir mal noch ganz kurz einen kleinen Sprung machen, dann sind sie auch im Jahr 1979 im Rahmen einer Amnestie in der es, //genau// die es ja einige gab in der DDR, eben auch diese relativ Große umgreifende im Jahre 1979, sind sie frei gekommen //mhm// und nicht in den Westen, sondern wieder in die DDR.
#00:11:12#
A. Schulze: Das war ja das Problem. Eigentlich ging man ja immer davon aus, wer irgendwo im Knast ist wegen Fluchtversuch, der wird irgendwann mal ausjekauft und fährt dann sozusagen mit einem Bus direkt in den Westen. So war es ja nun leider nicht, wegen der Amnestie, d.h. man wurde da vors Tor jestellt, wo man eigentlich herkam. Was nun eine mittelschwere Katastrophe war. Zum Glück haben die Eltern von meinem Freund die Wohnung nicht aufgegeben, was ich immer zu jesagt hab, aber ne sie haben es eben nicht jetan, aber nun eben zum Glück, d.h. wir sind da wieder gelandet und haben dann aber gesagt okay wir werden unsere Arbeitskraft nicht mehr diesem Staat in unserem tollen Beruf zur Verfügung stellen. Wir arbeiten jetzt nicht mehr für den Staat, so! Und dann sind wir halt rumgelaufen haben irgendeinen Job jesucht und ich bin dann als OP-Schwester in dem Krankenhaus gelandet, wo ich auch geboren wurde in Pankow mit dem schönen Namen Maria Heimsuchung. Und da war ich dann OP-Schwester.
#00:12:17#
C. Jacobi: Sie waren OP-Schwester in Pankow und in der Zeit, in der Zeit also zwischen der tatsächlichen Ausreise und der Freilassung aus dem Frauengefängnis haben sie einen, oder sogar mehrere Ausreiseanträge gestellt.
A. Schulze: Genau, wir haben halt als wir raus waren uns nen Job jesucht, wir mussten ja arbeiten, weil sonst wäre man als asozial disqualifiziert worden.
C. Jacobi: Asozial bedeutet, nicht zu arbeiten?!
A. Schulze: Richtig! Also man musste arbeiten, so. Da hat nun jeder seinen Job jefunden, und dann haben wir natürlich unmittelbar danach einen Ausreiseantrag gestellt, also ganz offiziell. Und das wurde, ab und zu musste man dann auch noch mal hin zur Abteilung Inneres, und jedes Mal wurde mir dann gesagt: „Naja also pff, sie können ja noch lange warten, sie werden noch ihre Rente als OP-Schwester kriegen.“. Und da hab ich jesagt „Gut, das ist dann ebend ein schöner Beruf, also ich weiche nicht davon ab!“. So wars.
#00:13:17#
C. Jacobi: Und die Gründe, aus denen sie diesen Ausreiseantrag gestellt haben, die werden sich ja nicht großartig von den Gründen unterscheiden, aus denen sie sich entschlossen haben aus der DDR zu fliehen. Können sie Die nochmal kurz darlegen? Also wenn sie sagen, sie möchten ihre wertvolle Arbeitskraft in ihrem wertvollen Beruf als Zahnärztin diesem Land nicht mehr zur Verfügung stellen, ähm ja wie genau meinen sie das?
#00:13:43#
A. Schulze: Na also abhauen in den Westen wollten wir, weil wir das einfach tot langweilig im Osten fanden. Wir fühlten uns eingesperrt und hatten so das Gefühl, ja von der Wiege bis zur Bahre ist alles vorgezeichnet. Ich wusste ganz genau, ich gehe dann nach Rathenow muss da meine Jahre absitzen, oder abarbeiten sozusagen, kann dort bleiben natürlich. Werde vielleicht äh Familie gründen, so war der Plan, ich sag mal des Staates. Es ist ja auch vielen Kommilitonen halt so gegangen.
C. Jacobi: Der aber vielleicht nicht ihr Plan gewesen ist?
A. Schulze: Das war eben überhaupt nicht mein Plan, so, und ich wollte reisen, ich wollte frei sein so also es hatte nicht vorwiegend jetzt politische Gründe. Ich war natürlich nicht in der Partei oder gar nichts. Also demzufolge hatte man sowieso schon keine Vorteile. Aber, ja ich wollte einfach frei sein.
C. Jacobi: Vorwiegend persönliche Gründe.
A. Schulze: Genau.
C. Jacobi: Wie ging’s dann weiter nach dem, nach dem ersten Ausreiseantrag?
#00:14:42#
A. Schulze: Ich wurde mehrmals zur Abteilung Inneres bestellt, aufs Rathaus Pankow. Wo man mir halt mitteilte, dass das jetzt zwar nun ganz nett ist, aber wird wohl überhaupt nun gar nicht genehmigt, niemals. Ja, aber es hat uns natürlich nicht gehindert, immer wieder Ausreiseanträge zu stellen und das immer wieder zu erneuern.
C. Jacobi: Und haben sie in der Zeit so ein bisschen wie auf gepackten Koffern auch schon gesessen? Weil sie damit gerechnet haben, oder gehofft, vielmehr gehofft haben, dass es vielleicht //Ja// losgehen könnte?
A. Schulze: Ja, na klar! Na klar, man wusste nicht wie lange es dauern würde und wir hatten natürlich auch Kontakte nach West-Berlin, wo wir wussten, dass die sich kümmern und man wusste aber nun natürlich nicht wann.
#00:15:26#
C. Jacobi: Mhm. Das heißt sie haben schon so ein bisschen versucht, ähm zusammen zu packen, sich zu minimalisieren, zu verkleinern, zu überlegen, wie sie mit ihrem Hausrat umgehen?
A. Schulze: Mein Hausrat, der wertvoll war, also Erbstücke zum Beispiel, war schon längst im Westen, weil vor dem Fluchtversuch unsere Freunde aus West-Berlin mehrmals in der Woche, also ja ich zwei, drei Mal die Woche kamen die halt zum Besuch und haben dann beim Grenzübertritt zurück immer irgendwas mitgenommen. Obs ne Sammeltasse war oder die Petroleumlampe oder was auch immer, also alles von Wert, für mich, ideell, war sowieso schon in West-Berlin, das haben die bei sich praktisch gehortet und demzufolge bin ich am Ende mit einem Koffer ausgereist.
#00:16:22#
C. Jacobi: Und nicht zu vergessen, einem Klappstuhl!
A. Schulze: Genau! Der Klappstuhl. Also vorher war schon eine Knastschwester ausgereist, mit Möbeln, das wäre auch irgendwie jegangen, ich hab keine Ahnung wie, also das war ja überhaupt nicht meine, mein Interesse. Aber jedenfalls die is mit Möbeln ausgereist und hat den Kacheltisch meines Opas mitgenommen. Der landete dann in Frankfurt am Main. Aber was ich ebend noch tragen konnte, war mein Klappstuhl von Tante Mimi. Und so hatte ich in einer Hand n Klappstuhl und in der anderen Hand meinen Koffer, der total schwer war, weil da war unter anderem die Schellackplatten meiner Mutter drin. Die sind ganz schwer.
C. Jacobi: Und die mussten auf jeden Fall mit.
A. Schulze: Die mussten mit, natürlich.
#00:17:06#
C. Jacobi: Und sagen sie, die Technik oder die Idee sich schon wertvolles Hab und Gut im Vorhinein, oder einfach auch um es zu konservieren und zu schützen, von West-Verwandtschaft oder von Freunden mit rüber nehmen zu lassen, war das gängig oder war das tatsächlich so ein Schlupfloch, was sie sich da entwickelt haben?
A. Schulze: Ich hatte ebend schon immer viel viel West-Besuch. Ach, zu Kinderzeiten schon wurde natürlich auch schon was jeschmuggelt. Kinder, die so alt waren wie ich, oder jünger, oder wie auch immer, haben dann schon drei Kleider übereinander anjezogen, um das drüber zu kriegen und umgekehrt auch. Also das war schon immer nach Mauerbau irgendwie gängig, dass man irgendwas hin und her schleppte. Möglichst ohne erwischt zu werden.
#00:17:50#
C. Jacobi: Offenbar ist diese Ausreise genehmigt worden, eine. //Ja// Einer dieser Versuche hat gefruchtet. Erzählen sie uns doch noch mal von dem Tag, an dem sie erfahren haben, dass sie tatsächlich ausreisen dürfen, und wies dann weiterging.
A. Schulze: Ich war, ich war halt im OP, also auf der Arbeit und war aber unsterile Schwester und bin ans Telefon gegangen und irgendwie wurde gesagt, ich soll, von der was weiß ich Vermittlung oder so, ich soll mich in der Abteilung Inneres melden, morgen. Und na da war ich natürlich völlig fertig, weil des war sonst noch nie der Fall jewesen also hab ick jedacht eventuell wird da vielleicht was entschieden, oder ist schon, wie auch immer. Jeweils bin ich dann natürlich dahin und da wurde mir mitgeteilt mit giftigem Unterton „Ihnen wird die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt!“. Musste mich ja zusammenreißen, dass ich nicht „Juhu“ schreie. Und ja dann war’s entschieden und ich habe so ein Laufzettel bekommen. Es gab auch schon den Termin, wo ich ausreisen musste, des war glaube ich eine Woche, eine Woche oder zehn Tage sogar, aber ich glaub eher ne Woche und auf diesem Laufzettel waren alle möglichen Sachen ebend aufgelistet, was ich machen musste. Ich musste mich bei der Bewag abmelden, ich musste meine Wohnung abmelden, Telefon abmelden, äh und sowas alles.
#00:19:20#
C. Jacobi: Man hat schon sichergestellt, dass sie sozusagen alles ganz geordnet übergeben, //Genau// und verlassen.
A. Schulze: Ja! Also es ging natürlich alles nach Recht und Gesetz zu, bürokratisch wies nur überhaupt geht, also ich musste ebend auch, zu was weiß ich, zu Zentralbank, ich weiß gar nicht mehr wies hieß. Also jedenfalls muss ich da halt irgendwie bescheinigen lassen, dass ich keine Schulden mehr habe und solche Sachen.
C. Jacobi: Dann sind sie sozusagen nach der guten Nachricht daran gegangen ihr Hab und Gut zusammenzupacken, beziehungsweise das auszusortieren, was sie mitnehmen wollten, und war ihnen dann zu dem Zeitpunkt schon direkt klar, dass es nach West-Berlin gehen würde?
#00:20:02#
A. Schulze: Ja. Klar.
C. Jacobi: Und aus welchem Grund?
A. Schulze: Na, weil ich in Berlin bleiben wollte. War ja keine Frage. Ich bin also dann, die letzte Nacht habe ich bei meiner ältesten Freundin und ihrem Mann übernachtet, und der hat mich dann zum Bahnhof Friedrichstraße gefahren, mit Koffer und Klappstuhl, und da bin ich dann ja ganz normal sozusagen ausgereist mit meinem ja ich glaube irgendwie ich weiß gar nicht wie das mehr hieß, also jedenfalls einen Ausweis hatte ich ja nicht mehr, also so ein Schreiben irgendwie so ein Schriebs.
C. Jacobi: So ne Art Passierschein wahrscheinlich?
A. Schulze: Ja irgendwie sowas. Ja.
C. Jacobi: Und da müssen wir aber nochmal auf die ganz besondere Rolle oder die besondere Funktionsweise des Bahnhof Friedrichstraße eingehen. Vielleicht für die Hörer, die das noch nicht so genau wissen. Also dieser Bahnhof war getrennt, das Bahnsteig war getrennt für Ost und West. Ist das richtig?
#00:20:59#
A. Schulze: Naja es gab praktisch, der Eingang für Leute, die in Westen reisen wollten, war ebend dieser so genannte Tränentunnel, Tränenpalast, den es ja jetzt noch gibt. Und von da aus war eben Passkontrolle, die ich ja nun auch absolvieren musste mit meinem Schriebs und dann wurde man halt weitergeschickt. „Gehen sie mal, gehen sie mal.“ und dann kam ich durch irgendein Gang, menschenleer, zwei Typen, zwei Soldaten standen dann da ana Seite und dann sachte denn einer zum anderen „Na da kommt wohl wieder eine ohne Rückfahrkarte“.
C. Jacobi: Und dieser Tag, wie war das im Speziellen für sie, da dann im anderen Ende des Bahnhofes äh in West-Berlin anzukommen?
A. Schulze: Tja also war völlich ja ich weiß auch nicht irgendwie ich hatte glaube ich überhaupt gar kein Gefühl. Es war irgendwie so überwältigend, ich konnte mich nicht freuen, ich konnte mich heulen, ich konnte gar nichts irgendwie, und bin dann einfach in die nächste S-Bahn jestiegen und wie verabredet war nach zwei Stationen ausgestiegen und da standen dann meine Abholer.
#00:22:02#
C. Jacobi: Wahnsinn. Das heißt also, sie haben tatsächlich schon ähm eine Sozialgemeinschaft oder eine Freundesgemeinschaft in West-Berlin gehabt, //Ja// die sie aufgenommen hat, empfangen hat, die ihnen Hilfestellung geleistet hat. Ähm wie kam das, wie kam das zustande, dass da schon ne große Community, sage ich mal, vorhanden war für sie?
A. Schulze: Na das kam im Grunde genommen schon durch meine Eltern zu Stande. Die ja während des Krieges jung waren, und äh ja ein großen Freundeskreis hatten und irgendwann als die Mauer gebaut wurde, waren die einen ebend im Osten und die andern zufällig im Westen. Also das wusste man ja nun vorher auch nicht, wie das so war. Ja und die haben total zusammengehalten. Also wir haben ganz viel West-Besuch gehabt, jedes Wochenende, die haben sich untereinander abjesprochen, wer wann in den Osten fährt und so also und die hatten natürlich auch alle irgendwelche Kinder, die so mein Alter waren und dadurch kannte ich schon mal ganz viele Leute.
#00:23:02#
C. Jacobi: Unter anderem auch ihren guten Bekannten oder guten Freund, bei dem sie die die erste Zeit untergekommen sind.
A. Schulze: Ja das hat sich ebend ergeben, dass äh einer unserer Fluchtorganisatoren äh hatte ne Cousine, die ausm Schwarzwald kam und die wiederum ist also durch Berlin jezogen. Natürlich vom Dorf wo sie herkam, so des konnte ich nachher so gut nachvollziehen, weil mir ging’s ja auch so, ich kam zwar nicht vom Dorf, aber so lebenshungrig, und die ist halt durch die Kreuzberger Kneipen jezogen und hat da unter anderem eben einen Menschen kennen gelernt, der dann auch zu uns nach Ost-Berlin zu Besuch kam, und da ergab sich das eben, dass der zu der Zeit als ich ausreisen durfte, konnte er eine Famulatur in Australien machen und hatte also diese Wohnung war frei und die konnte ich für drei Monate ebend mieten.
#00:23:59#
C. Jacobi: Das heißt sie waren tatsächlich in einer sehr glücklichen Position, äh eine Anlaufstelle zu haben, Freunde zu haben, aufgefangen zu werden. Trotzdem mussten sie sich aber auch als DDR-Flüchtling melden in Marienfelde, richtig?
A. Schulze: Genau, ja man musste da hin und äh ja alle möglichen Stationen durchlaufen. Also zu allen Alliierten zum Beispiel, die gefragt haben, ob ich irgendwelche Kontakte hatte zu irgendwelchen äh Armeestandorten oder Kasernen, oder ob ich dazu irgendwas sagen kann, was ja nun nicht der Fall war.
C. Jacobi: Und ähm sie waren beziehungsweise sind ja immer noch Zahnärztin, das heißt mich würde es total interessieren, wie der das Ankommen sich gestaltet hat in Bezug auf die Berufsaufnahme, auf die Arbeitsaufnahme?
#00:24:55#
A. Schulze: Das war im Grunde genommen relativ einfach. Im Vorhinein habe ich natürlich sowieso schon überlegt also Medizin ist ja nun auf der ganzen Welt irgendwo ähnlich, und wenn ich jetzt was weiß ich Raketenwissenschaftler oder was auf immer gewesen wäre, wäre die Sache vielleicht noch anders jewesen, aber als Mediziner denke ich findet man überall auf der Welt Arbeit, und so habe ich meine erste Arbeitsstelle aufgrund einer Annonce gefunden. Da bin ich dann hingefahren, musste mich ja vorstellen und das war in Lichtenrade, also ick sage mal jwd, weil ich damals ja gewohnt habe in Kreuzberg.
C. Jacobi: Und waren sie, jetzt muss ich nochmal ganz kurz zurückfragen, auch während ihrer Zeit, oder als DDR-Bürgerin schon mal auf West-Besuch in West-Berlin, also kannten sie sich ein bisschen aus?
#00:25:48#
A. Schulze: Völlig neu. Völlig neu.
C. Jacobi: Das heißt also ähm den Weg nach Lichtenrade zu finden das musste dann sozusagen auch erstmal rausgefunden werden?
A. Schulze: Genau. Na klar, ja. Und dann bin ich mit dem Bus nach Lichtenrade mindestens ne halbe Stunde jefahren, und dachte schon oh Gott jetzt komme ich gleich wieder im Osten an, (lacht) aber der Bus hielt vorher, und ich habe dann die Stelle auch bekommen. Und der nette Chef hat dann auch noch gleich gefragt, wo ich denn nun wohne und wie sich das nu alles zusammenschiebt und hatte dann eine Einliegerwohnung in seinem Haus für mich frei. Und da hab ich dann auch noch gewohnt.
C. Jacobi: Doppelt Glück sozusagen.
A. Schulze: Doppelt Glück. Ja.
C. Jacobi: Und sagen sie Frau Schulze, gab es bezüglich der Ausbildungsanerkennung würde ich’s mal nennen, da Anforderungen dann ans Arbeiten im Westteil Berlins oder wurde da gar kein, wurden da gar keine Unterschiede gemacht?
#00:26:45#
A. Schulze: Ne, also ich war ja schon fertige Zahnärztin. Wenn ich noch während des Studiums abgehauen wäre, wäre die Sache anders gewesen. Aber da ich ja nu schon fertige Zahnärztin war und auch schon zweieinhalb Jahre im Osten gearbeitet habe, war das überhaupt gar keine Frage, das wurde sofort anerkannt. Ich hab mich bei der Zahnärztekammer und solchen Sachen ebend angemeldet. Und damit war’s gut. Ich hatte ja meine Approbationsurkunde und damit war der Fall klar.
C. Jacobi: Also fassen wir noch mal zusammen: Die Ausreise über die, über die Bahnhof Friedrichstraße Berlin, dann gewohnt für drei Monate in der Wohnung ihres Freundes der Famulatur in Australien gemacht hat, sie haben eine Arbeitsstelle als Zahnärztin in Lichtenrade bekommen, haben dann da auch in eine Einliegerwohnung ihres Chefs wohnen können und haben dann aber eben auch genau in dieser Zeit sicherlich angefangen das neue Berlin für sie, das West-Berlin ähm zu erkunden.
#00:27:48#
A. Schulze: Ja, na klar. Also der Freund in dessen Wohnung ich wohnte, der wiederum, also das war ein Haus, was also einem privaten Menschen gehörte, bei dem ich mich ja nun vorstellen musste, was mir ja auch völlig neu war, beim Vermieter sich vorstellen, sowas kannte ich ja nun auch nicht. Also bin ich dahingefahren und der war ebend total nett, und ja bis zu seinem Tod waren, vor paar Jahren, waren wir also befreundet. Er hatte n Sohn zufällig in meinem Alter, mit dem ich ja bis heute noch befreundet bin und der hat praktisch ja die beiden, der aus der Wohnung und der Thomas und die haben mich mitgeschleppt, durch sämtliche Kneipen in Kreuzberg und wir haben also ja ich lebenshungrig hoch drei! Und ach zum Beispiel waren wir zwölf Stunden im Theater, das war ja im Hebbel Theater und da hab ich jedacht „Also die Westler spinnen. Die spinnen“, sowat kannte ich ja nun mal überhaupt nicht, ja, zwölf Stunden Theater, Orestie des Aischylos, war total interessant, nicht eine Minute langweilig, aber solche Sachen halt haben die mit mir veranstaltet. Mich überall hin mitjeschleppt.
C. Jacobi: Das heißt, ähm würden sie sagen ihr Lebenshunger, von dem sie ja ähm so oft sprechen, der wurde in Berlin gestillt?
A. Schulze: Ja. Ja total, also West-Berlin war ja praktisch ne Insel, also man war ja umgeben von der Mauer, aber man kam sich, also ich kam mir überhaupt nicht eingesperrt vor, gar nicht. Also den Osten habe ich nach wie vor so in Erinnerung als total grau, öde, still, so.
C. Jacobi: Einheitlich wahrscheinlich auch, ne?
A. Schulze: Ja.
C. Jacobi: Sehr konform. //Mhm// Mhm. Ok.
#00:29:40#
A. Schulze: Und deswegen war das sprudelnde West-Berlin so beeindruckend für mich, es war bunt, laut, die Leute sehr offen. Ich wurde gleich geduzt von allen möglichen Leuten //Ah ja//, die so mein Alter waren, fand ich kannte ich überhaupt nicht aus dem Osten da war alles per sie, weil duzen, das war nur was für die Genossen und da wir natürlich nun gar nicht auf Linie der Genossen waren, hat man sich eher gesiezt.
C. Jacobi: Und ähm nochmal ein bisschen tiefer gefragt, woran würden sie dieses Bunte, oder woran haben sie dieses Bunte so festgemacht? Also sie haben schon gesagt ähm die Menschen, die vielleicht auch ein bisschen vielfältiger und offener waren, aber ähm tatsächlich auch das Lebensgefühl wahrscheinlich.
#00:30:26#
A. Schulze: Das Lebensgefühl, aber es war auch reine weg äh das, was man sah, es waren die Farben, die vielen Obst und Gemüsesorten voll auf der Straße //Ja// bei den Türken und überall war es einfach Bunt. Plakate, Autos. //Gerüche vielleicht auch?// Gerüche? Ja auch. Autos //ja stimmt// in allen Farben. Im Osten gabs nur immer dieses beige, hellblau, Schlüpper-rosa-Trabant.
C. Jacobi: Und gab es so auch so bestimmte Erwartungen, die sie an das neue Leben, darf ich es neue Leben nennen, äh hatten? Außer dem gestillten Lebenshunger und ähm das reisen?
A. Schulze: Reisen natürlich //ja//, na klar! Ich bin also, bevor ich also überhaupt angefangen hab zu arbeiten, war ich ja schon auf Gran Canaria //ah ja//. Ja. Also das musste sein irgendwie, also ich war natürlich auch ein bisschen, ein bisschen „ab“ so ingesamt durch den Knast, war nicht so ganz witzig und ja irgendwie musste ick mich praktisch ein bisschen erholen, freischwimmen.
#00:31:30#
C. Jacobi: Und das haben sie selber für sich getan und haben das gut genossen //genau// hoffentlich. Und wie würden sie diese Zeit oder diese Lebenssituation rückwirkend ähm nochmal betrachten? Was hat die Stadt für sie bereitgehalten in der Zeit?
A. Schulze: Na ich hatte letztendlich alle Möglichkeiten //ja//. Also ich wurde überall gut aufgenommen. Es war ja praktisch zehn Jahre vor der Wende //ja// und so war ich im Grunde genommen so ein bisschen der Exot, also überall, wo ich hinkam und dann wo es rauskam ich komme ausm Osten wurde gefragt „Oh Mensch! Erzähl mal! Wie kam denn des und wie war’s denn da und wie hast du denn des geschafft?“ also die Leute waren total interessiert und hilfsbereit.
C. Jacobi: Also sie haben oder anders gefragt haben sie das schon erlebt, dass auf sie etwas herabgeblickt wurde als ähm als junge Frau aus dem Osten?
#00:32:25#
A. Schulze: Ne überhaupt nicht. Also deswegen sage ich ja, es war zehn Jahre vor der Wende. Des war ne völlig andere Situation. Ich hab ja aktiv versucht in den Westen zu kommen, während nun mit der Wende sozusagen kam ja der Westen über die Leute ohne, dass sie dit grundsätzlich so richtig wollten, oder sich vorher klar gemacht haben, was das bedeuten wird.
C. Jacobi: Also es gab noch ein paar Lebenssituationen, in denen man schon gemerkt hat, äh oder sie auch gemerkt haben, dass es einfach ein paar Dinge gibt, die sie noch nicht wissen können, oder in denen sie vielleicht auch ein ganz klein wenig blauäugig gewesen sind.
A. Schulze: Na klar. Ich habe als erstes ein Auto gekauft, von dem Sohn meines Chefs. Und es war ein Honda Civic, der sollte 10.000 DM kosten. Ich habe ja dann in der Zeit schon gearbeitet also bei dem Chef ebend, und der Sohn hat mich schon immer animiert „Du musst den alten noch ein bisschen mehr um Geld bitten, du musst mehr verdienen!“ und naja, wahrscheinlich nicht ganz uneigennützig. Also jedenfalls habe ich dann 10.000 DM gehabt und habe die, sollt ich verabredungsmäß ebend ihm übergeben. Er war aber nicht zu Hause und da habe ich gedacht wat soll ich jetzt mit den 10.000 DM machen? Und habe sie einfach durch seinen Brief Schlitz gesteckt. Schein für Schein. Naja, und am nächsten Tag wollte der natürlich ohnmächtig werden und sagen, „Ja sag mal und wenn ich jetzt behaupte du hast mir kein Geld gegeben, was machst du dann?“. Ja wie? Auf die Idee bin ich überhaupt nicht gekommen. Also war völlig ne, naiv.
#00:34:05#
C. Jacobi: Ja und man, man hat sozusagen noch die ähm das Hintergrundwissen äh oder das Hintergrundgefühl gehabt, wie es in der DDR üblich war //genau//, dass man sich einfach auf sowas verlassen kann, //ja//. Ich habe mir noch gemerkt, Frau Schulze, sie haben sich so wie wahrscheinlich viele neu Ankommende in West-Berlin auch ähm gerne am Kurfürstendamm aufgehalten und im Café Kranzler. Sie waren auch im KaDeWe.
A. Schulze: Also Café Kranzler war mein erster Anlaufpunkt sozusagen, weil mich meine Abholer von der S-Bahn sofort zum Café Kranzler jebracht hatten. Mir blieb ja irgendwie ein Stück Kuchen für drei Euro 3,50 DM bald im Halste stecken, weil ich fand es unangemessen so viel Westgeld für ein Stück Kuchen. //Mhm// Aber okay. Ne also da war ich eigentlich noch so ein bisschen wie betäubt, an dem Tag glaube ich. Aber anschließend irgendwann war ich natürlich auch im KaDeWe. Was ich ganz schrecklich fand in der sechsten Etage diese Lebensmittelabteilung mit 200 Sorten Schinken und äh 400 verschiedenen Käsesorten und fand ich eigentlich abartig. Also dit fand ick sowas von daneben irgendwie, ich mochte da gar nicht mehr hingehen. Wo ich dann aber auch noch gleich war, war in ähm zur Grünen Woche.
C. Jacobi: Die gabs damals schon?
#00:35:27#
A. Schulze: Natürlich, die gibt’s schon ewig. Und die Grüne Woche war ja ja so ein Spiegel weltweit, was es überall überhaupt so gibt, und ich wollte mir ja ganz was Exotisches schließlich auch mitbringen von dort und habe exotisch hab ich mir mitgebracht eine Flasche Almdudler, irische Butter und es war noch irgendwas, ach Marillenlikör. So Marillenlikör. Nichtwissend, dass es sowas überhaupt überall zu kaufen gibt. Weil ich kannte ja nur Aldi! Und deswegen hab ich jedacht, ich bring mir was ganz Exotisches mit, aber es war nicht an dem.
#00:36:14#
C. Jacobi: Das heißt sie waren bei Aldi einkaufen, öfter?
A. Schulze: Ja. Na nur!
C. Jacobi: Oder nur. //Nur//. Und das war sicherlich auch ne ähm entgegengesetzte Erfahrung zum Einkaufen in Ost-Berlin?
A. Schulze: Na ja klar, also ich hatte ja nun, ich hab ja zwar gut verdient, aber ich hab ja jeden äh Groschen gespart im Grunde genommen, außer natürlich jetzt zum Beispiel die Reise nach Gran Canaria. Aber ansonsten bin ich grundsätzlich eher bescheiden, sowieso, aber ja ich hab halt nichts rausgehauen und bei Aldi einkaufen war halt das Billigste und deswegen war das meins. Aldi auf der Hasenheide.
#00:36:53#
C. Jacobi: Und wenn mich nicht alles täuscht, dann existiert das auch heute noch. Jenes Aldi. //Ich denk schon// Was wir noch nicht besprochen haben oder was ich sie noch nicht gefragt habe, ist sozusagen, ob sie eigentlich auch nach dem Grenzübertritt was vermisst haben aus der DDR? Oder was die Familie betrifft, ähm haben sie Familie zurücklassen müssen?
A. Schulze: Ne also vermisst hab ich eigentlich im Grunde jenommen gar nichts, außer meinen Freunden. //Ja// Das war ja irgendwie ja ne seltsame Situation, man ging ja davon aus, man sieht sich nie wieder oder jedenfalls äh erst wenn man Rentner ist, //mhm// so. Aber äh ne. Familie? Meine Eltern waren schon lange tot. Geschwister hab ich nicht. Also ich war sozusagen sowieso irgendwie alleine.
C. Jacobi: Jetzt sind wir -lebenssituationsmäßig- stehen geblieben bei der Einliegerwohnung, beim Chef, also bei Ihrer Stelle als Zahnärztin. Ähm wie ging’s danach weiter?
#00:37:54#
A. Schulze: Da war ich als Assistenzärztin halt und habe aber im Grunde jenommen die Praxis geschmissen, weil der Mensch war schon 73 damals und hatte nu auch keine Lust mehr so recht. Also hab ich da alles jemacht und weil so viel Arbeit war, wurde dann noch ein Assistent eingestellt und mit dem hab ich dann praktisch ne Weile zusammen gearbeitet in der Praxis und der sagte irgendwann „Also weißte, du kannst gut bohren ich kann gut organisieren. Lass uns doch zusammen ne Praxis aufmachen!“. Gesagt. Getan. Dann waren die Räume aber so groß, dass wir noch einen Dritten brauchten sozusagen und dann haben wir einen Dritten noch mit dazu genommen. Der war vorher Oberarzt an der Uni. Ja war aber auch so alt wie wir und so haben wir zu dritt die erste Praxis aufgemacht, 1982 in der Reichsstraße.
#00:38:48#
C. Jacobi: Sie waren die einzige Frau. Sie waren in der Praxis zusammen mit zwei Männern. //Ja// Und wie hat sich das Zusammenarbeiten gestaltet?
A. Schulze: Also ich hab Sachen aus dem Osten mit eingebracht, die denen völlig unbekannt waren. Also zum Beispiel Schichtarbeit. Hier in West-Berlin oder ja was weiß ich, aber jedenfalls wars zu der Zeit wars üblich jetzt ist es auch schon wieder anders, aber damals war es üblich immer Sprechstunde von 9-12 und von 15 bis 18:00 Uhr und das fand ich ja nun schon total blöde. Da ist ja der ganze Tag wech. Also hab ich gleich mal eingeführt, wir machen Schichtdienst! Und da wurde bis zum Schluss haben wir das so durchgehalten, 08:00 bis 14:00 Uhr oder 14 bis 20:00 Uhr.
#00:39:35#
C. Jacobi: Wie war das entgegengesetzte Modell? Das das bis dato vorgeherrscht hätte? Oder hatte?
A. Schulze: Na das war mit Mittachspause.
C. Jacobi: Das war mit Mittagspause. //Genau// Also immer von 12:00 bis 15:00 Uhr sowas in der Art. Okay. Das ist also ähm ein Mitbringsel aus der DDR //genau// oder eine Übernahme, die sie eingebracht haben, der Schichtdienst in ihrer Gemeinschaftspraxis. Super. Ok. Dann hab ich noch eine allerletzte Frage, und zwar, wenn sie so zurückblicken auf die Zeit würden sie mir zustimmen, wenn ich äh, wenn ich ihre Geschichte als positive oder sogar auch als Erfolgsgeschichte bezeichnen würde?
#00:39:27#
A. Schulze: Ja! Unbedingt.
C. Jacobi: Ja, //Mhm// denn ähm ich glaube oder ich meine, dass die der Übertritt für sie tatsächlich abgesehen von der von der Vorerfahrung mit der U-Haft und den, und dem, den zwei Jahren warens glaub ich insgesamt?
A. Schulze: Ein Jahr.
C. Jacobi: Ein Jahr in Hoheneck. Was natürlich unglaublich traumatisierend auch ist, tatsächlich danach sich äh schon alles zum Guten gewendet hat.
#00:40:42#
A. Schulze: Ja, genau. Ich hab dann als ich in der Wohnung in Kreuzberg saß, natürlich auch überlegt, wen kenn ich denn nun alles, bei wem kann ich mich melden? Unter anderem ebend auch bei einem uralt Bekannten habe ich mich gemeldet und der ist dann sofort nach Berlin gekommen. Der lebte damals in Hannover oder studierte in Göttingen. Ist dann gleich am Wochenende später gekommen und ist dann heute mein Mann.
C. Jacobi: Ja (lacht) und sie wohnen, wenn ich mich recht erinnere, in ihrer Wohnung auch seit damals, seit den achtziger Jahren, richtig?
A. Schulze: Ja genau, richtig. Seit 1981.
C. Jacobi: Ja wunderbar. Ok. Ja gut Frau Schulze ich danke ihnen sehr für unser, für unser heutiges kleines Gespräch //gerne// und wünsche ihnen alles alles Gute.
A. Schulze: Vielen Dank.
C. Jacobi: Diese Produktion wird gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Zusammenhang mit dem Projektfonds Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. Konzeption und Ausführung: Caroline Jacobi, Postproduktion und Musik: Joel Devon Laube.
#00:41:51#
Begleitende Informationen in Leichter Sprache
Studenten konnten in der DDR nicht selbst entscheiden, was sie nach dem Studium machen wollten.
Das hat die Regierung entschieden.
Das nannte man: Absolventenlenkung.
Zum Beispiel gab es zu wenig Arbeiter in Fabriken und Werkstätten.
Dann musste man diese Arbeit machen.
Es war egal, was man selbst wollte oder gut konnte.
Manche Menschen in Gefängnissen werden frei gelassen und nicht bestraft.
Das nennt man: Amnestie.
Eine Amnestie entscheidet immer eine Regierung.
Es werden aber nur Menschen entlassen, die keine schlimmen Verbrechen begangen haben.
Mörder werden zum Beispiel nicht entlassen.
In der DDR gab es mehrere Amnestien in mehreren Jahren.
Denn die Menschen sollten die Regierung nett und gerecht finden.
Angela Schulze besuchte das Café Kranzler unmittelbar nach ihrer Ausreise – ihr erster Anlaufpunkt sozusagen. 3,50 DM für ein Stück Kuchen empfand sie in dieser Situation wahnsinnig teuer.
Seit 1825 ist das berühmte Kaffeehaus, (Café) Kranzler im Westen Berlins, ein Magnet und Treffpunkt für bedeutende Künstler:innen, Intellektuelle und die Berliner Schickeria. Das Café symbolisierte westlichen Wohlstand.
Aufgenommen im September 1971
Café Kranzler; Kurfürstendamm 18 – 19 (Charlottenburg) Ecke Joachimstaler Straße
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. 0149499
1982
Kurfürstendamm 18 (Charlottenburg) Ecke Joachimstaler Straße Kranzler-Eck
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (01) Nr. 0243441
1982
Kurfürstendamm (Charlottenburg) in Richtung Breitscheidplatz
Vorn: Café Kranzler, rechts: Kaufhaus Wertheim, dahinter: Europa-Center
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (01) Nr. 0243450